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Strategie ohne Plan?

Von Martin Kornberger

Gastkommentare
Martin Kornberger studierte Philosophie und ist Professor für Ethik an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine akademische Karriere führte ihn an Universitäten in Australien, Dänemark, Frankreich und Schottland. Während seiner Zeit in Australien baute er eine erfolgreiche Beratungsfirma auf. In zahlreichen Artikeln und Büchern (zuletzt "Strategies for Distributed and Collective Action: Connecting the Dots", Oxford University Press, 2022) erforscht er Strategien für kollektives Handeln und neue Organisationsarchitekturen. Im Murmann Verlag erschien soeben sein Buch "Systemaufbruch. Strategie in Zeiten maximaler Unsicherheit - Die Wiederentdeckung von Clausewitz".
© Murmann Verlag

Aus der antiken Athener Mauer des Perikles für heutige Krisen lernen.


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Russlands Überfall auf die Ukraine, Corona-Pandemie, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Finanzkrise, Terror: Die vergangenen zwei Jahrzehnte sind von Disruptionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gezeichnet. Angesichts dieser Verwerfungen versagen unsere Strategien. Woran liegt das? Und wie kann man trotz radikaler Unsicherheit strategisch handeln? Eine Antwort ist vielleicht in der Geschichte der Militärstrategie zu finden.

Im Jahr 457 vor Christus vervollständigt Perikles eine fünf Kilometer lange Mauer, die Athen mit seinem Hafen Piräus verbindet. Damit ist Athen vor einem Angriff und einer Belagerung der Spartaner sicher. Mit ihrer überlegenen Flotte orientieren sich die Athener von nun an auf das Meer hinaus. Sie projizieren ihre Macht in den gesamten Mittelmeerraum, in dem sie ihre Verbündete und Ressourcen finden. Spartas gewaltige Landarmee hat mit einem Schlag, ganz ohne Kampf und Verlust, an Macht verloren.

Wie soll man Perikles’ Mauer verstehen? Ist sie ein defensives Bollwerk oder ein Akt der Aggression? Für Athen ist sie ein Mittel der Selbstverteidigung; für Sparta hingegen ein Misstrauensvotum, denn wer braucht sich mit einer Mauer abzugrenzen, wenn man unter Freunden lebt? Die Mauer selbst ist eigentlich nur ein Haufen Steine und Erdwerk; ihr Effekt aber ist immerfort in Bewegung: Befriedung oder Bedrohung? Abschottung vom Land oder Weltöffnung aufs Meer hinaus? Begrenzung oder Freiheit? Die Mauer wird zum Pulverfass, die Lunte ist gelegt, und ein Funke genügt, um das alte Griechenland im Peloponnesischen Krieg (431 bis 404 vor Christus) in Schutt und Asche zu legen.

Angst vor der wachsenden Macht der anderen

Die wahre Ursache des Krieges, so stellt der US-Historiker John Lewis Gaddis knapp 2.500 Jahre später fest, liegt in der Angst der Spartaner und deren Verbündeter vor der wachsenden Macht Athens. Diese Angst ist nicht aus Stein und Erdwerk; diese Angst ist der Effekt der Handlungen, die Athen zuerst setzt, dann schlecht kalkuliert und am Ende nicht zu kontrollieren vermag. Es ist dieser Moment der Transzendenz, in dem ein Stein zum Anstoß wird, in dem die ganze Macht und Ohnmacht der Strategie liegt. In dieser Urszene liegt die Schwierigkeit der Strategie vor uns ausgebreitet. Die Mauer ist ein taktisches Meisterwerk, doch was ist ihr Effekt in Bezug auf den Zweck, den Nordstern, dem die Athener folgen? In der Herstellung dieses Zusammenhangs liegt nach Carl Philipp Gottlieb Clauswitz (1780 bis 1831) die Kunst der Strategie: Wie bezieht man Handlungen, die immer nur taktisch sein können, auf einen Nordstern hin, der niemals erreichbar ist und doch wegweisend wirkt? Oder umgekehrt: Was tut Perikles’ Mauer - nicht, wenn ein Angriff stattfindet (die Antwort auf diese Frage bleibt im Nebel des Krieges verhüllt: Unterspült starker Regen das Mauerwerk oder macht er ein Erklimmen unmöglich?), sondern bevor es überhaupt zu einem solchen kommt?

Perikles’ Mauer zeigt, wie irreführend die Idee des Implementierens eines Planes ist (Plan = Athen befestigen; Implementierung = Mauer). Es geht nicht um ein Ausfüllen der Zeit zwischen heute und morgen oder Wunsch und Wirklichkeit. Und es geht auch nicht um das Herstellen von Kausalketten die A via B, C etc. implementieren. Darin bestand Clausewitz’ Schockerlebnis: Es gibt keine Algebra des Handelns, die erlauben würde, Handlungen logisch miteinander zu verknüpfen, um einen vorab definierten Endzustand zu erreichen.

Die Umstände grätschenin die Pläne hinein

Es sind die kleinen und kleinesten Dinge, die uns aus der Bahn werfen, vom Kurs abbringen: anhaltender Regen, ein tiefer Boden (bei Clausewitz); Chatnachrichten (in der österreichischen Politik); ein Virus (in der Pandemie); sich rasch änderndes Konsumverhalten (erinnern Sie sich noch an MySpace und Blackberry?). Es sind diese Umstände, die dem Denken in Kausalketten einen Strich durch die Rechnung machen. Nicht nur, aber vor allem in Krisen stehen die Umstände eben nicht einfach unbeteiligt daneben, während sich der Stratege auf sein Ziel hinbewegt; nein, die Umstände grätschen in seine Pläne hinein, zwingen zu Modifizierungen, manchmal zu kompletten Kehrtwendungen. Kein Stratege wird je Kontrolle über diese Umstände haben; kein Plan übersteht seine Implementierung (um den preußischen Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke zu paraphrasieren).

Aber was der Stratege tun kann, was Perikles hätte tun können, ist sich darauf zu konzentrieren, wie sich ein Sammelsurium von taktischen Handlungen auf einen Zweck, auf einen Nordstern hin mobilisieren lässt; und wie umgekehrt dieser Nordstern lokalen Handlungen als Orientierung dient, ihnen Haltung vermittelt. Perikles hätte den Effekt des Mauerbaus verstehen und dann vielleicht steuern können. Dem Strategen geht es immer um mögliche Effekte von Handlungen. Ein solches Denken eröffnet zuallererst den Handlungsspielraum, den die Diade von Planen und Implementieren immerfort zu schließen versucht.

Daraus folgt, dass Strategie im Gegensatz zur Lehrbuchweisheit nicht mittels Modellen gemacht oder gedacht werden kann. Ein Modell ist immer eine Simplifizierung der Realität, ein Fokussieren auf bestimme Faktoren, die zählen, und ein Ausblenden von Umständen, die vernachlässigbar erscheinen. Ein Modell ist das implizite Versprechen, dass man von einem archimedischen Punkt aus die Welt aus den Angeln heben könne. Strategie jedoch ist das Gegenteil: Sie liegt im Effekt von Handlungen, und dieser Effekt kann in alle möglichen und unmöglichen Richtungen streuen.

Athen baut eine Mauer. Der Effekt ist nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickelt sich dynamisch, wächst wie Unkraut, schafft Kontext für zukünftiges Handeln: ein neuerwachendes Sicherheitsgefühl in Athen, aber auch Verunsicherung der Verbündeten, Einschüchterung der Nachbarn, Säbelrasseln Spartas. Die Mauer schafft zunehmend genau jene Bedrohung, auf die sie eine Antwort zu sein vorgab, eine weitere Aufrüstung Athens, eine Polarisierung der gesamten Region, auf der Innenseite der Mauer sich verschärfende Rhetorik, auf der Außenseite einen Schulterschluss, Präventivschläge . . . die Effekte überholen die Ursache, Perikles verliert die Kontrolle, Athen schlussendlich den Krieg. Die Mauer, eigentlich errichtet, um Sicherheit zu bringen, wird zum Grabstein Athens.

Strategie folgt keinem Modell, sondern ist rekursiv

Wenn wir hier den strategischen Effekten folgen, so sehen wir eine ungeheure Kontextualisierungsmaschinerie am Werk: Eines führt zum anderen, Schemata bilden sich, Handlungsmuster etablieren sich, Spielräume verengen sich, und manchmal erweitern sie sich wieder. Strategie folgt keinem Modell und keiner einfachen Plan-Implementierung. Vielmehr ist Strategie rekursiv, sie bewegt sich in Feedback-Schleifen, suchend, tastend, experimentierend.

Athen ist hier freilich ein Platzhalter, der Denkraum für Organisation, Administration und Politik schafft. Für den Strategen bedeutet Athen, dass er seine kognitive Aufmerksamkeitsstruktur überdenken muss. Fokussieren heißt Kontext ausblenden. Der Stratege muss jedoch Kontext einblenden. Im Mauerbau des Perikles geht es nicht um den Bau der Mauer. Das Problem ist niemals das Problem. Der Stratege braucht eine periphere Vision, ein Auge für Umstände und unvorhergesehene Ereignisse, die auf den Schauplatz drängen. Oder wie der ehemalige britische Premier Harold Macmillan auf die Frage nach der größten Herausforderung für einen Staatsmann antwortete: "Events, my dear boy, events." Der Bau einer Mauer ist keine Kunst; aber zusammenzudenken, was sie von nun an trennt, zu kontrollieren, was für Narrative auf beiden Seiten an ihr in die Höhe ranken, ihren symbolischen Wert einzufangen - darin liegt eine wahre Kunst, die Kunst des Strategen.