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Strauchelnder Hoffnungsträger

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

Knapp eine Milliarde Inder wählen ein neues Parlament.


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Neu-Delhi. In Indien hat die Parlamentswahl begonnen, die sich insgesamt über fünf Wochen hinziehen wird. Am Montag waren zunächst die Menschen in den nordöstlichen Staaten Assam und Tripura dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.

Um die 814 Millionen Menschen sind aufgerufen, eine neue Regierung auf dem Subkontinent zu bestimmen. Prognosen sind wegen des Wahlsystems und der vielfach unberechenbaren Wählerschaft schwer abzugeben. Daher hat im sternengläubigen Indien vor der Mega-Abstimmung eine besondere Berufsgruppe Hochkonjunktur: die Astrologen. "Ihre Unsicherheit ist unser Kapital, ihre Niederlage ist unser Erfolg", sagt Daivajna K. N. Somayaji, ein Astrologe, der zahlreiche Politiker in der Hauptstadt Delhi berät. Der 55-jährige Somayaji ist eine traditionelle Adresse für ratsuchende Kandidaten. Horoskope für Politiker können zwischen 1000 und 10.000 Euro kosten. Für ständige Beratung im Wahlkampf wird wesentlich mehr verlangt.

Der Blick in die Kristallkugel ist in Indien keinesfalls ungewöhnlich: Als der Software-Milliardär Nandan Nilekani vor kurzem die Unterlagen für seine Kandidatur im Wahlkreis Süd-Bangalore abgab, hatte ihm sein astrologischer Beraterstab die Uhrzeit vorgegeben, die besonders glückbringend sein sollte. Indische Politiker schrecken vor wenig zurück, wenn die Planeten es so wollen: Ein Kandidat aus dem Bundesstaat Bihar soll splitternackt einen Büffel gefüttert haben, um die Götter günstig zu stimmen, einem anderen Aspiranten für einen der 543 Sitze im Nationalparlament in Neu-Delhi wurde von seinen Wahrsagern angeraten, sich mit Schuhen verprügeln zu lassen. Beide sollen die Wahl gewonnen haben, so geht zumindest die Legende. Das scheint genug, um nervöse Politiker aus allen Lagern zu versichern, dass Astrologie keine Zeitverschwendung ist.

Farbloser Gandhi-Spross

Wegen der Größe des Landes und den schier unglaublichen Zahlen wählt Indien in neun verschiedenen Etappen vom 7. April bis zum 12. Mai. Bis zum 16. Mai werden die Stimmen ausgezählt. Knapp ein Sechstel der Erdbevölkerung ist an der Abstimmung beteiligt. Damit ist es nicht nur die größte Wahl der Welt, sondern auch die größte von Menschenhand organisierte Veranstaltung überhaupt. Allein die Zahl der Erstwähler liegt bei 100 Millionen Menschen. Indien verfährt nach dem britischen Wahlsystem, bei dem der Sieger alles bekommt: Ein Kandidat muss erst seinen Wahlkreis gewinnen, um einen Sitz in der Volksvertretung zu ergattern. Wird er im Rennen um den Sitz nur Zweiter, geht er komplett leer aus. Dies macht den Ausgang der Abstimmung schwer kalkulierbar. Nicht einmal die Astrologen wollen sich mit ihren Weissagungen weit hinauswagen. Eine Mondfinsternis und eine Sonnenfinsternis im Abstand von 15 Tagen während der Wahlperiode werden ihren Einfluss auf das Schicksal des Landes haben, deutete der Astrologe S.K. Jain in einer indischen Zeitung vorsichtig an.

In diesem Jahr wird der Wahlkampf besonders hart ausgetragen: Wer die Gunst von Indiens notorisch unkalkulierbarer Wählerschaft gewinnen wird, ist völlig unklar. Die regierende Kongresspartei erscheint schwach und führerlos. Premierminister Manmohan Singh ist 81 und will keine weitere Amtszeit absolvieren. Rahul Gandhi, die politische Hoffnung der Partei und der Erbe der politischen Gandhi-Dynastie, die Indien die längste Zeit in seiner Geschichte seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 regiert hat, hat bislang wenig überzeugen können. Der 43-jährige Sohn von Kongressparteichefin Sonia Gandhi und Enkel von Ex-Premierministerin Indira Gandhi blieb farblos und ohne das Charisma der Gandhi-Familie.

Große Erwartungen an Modi

Die Oppositionspartei Bharatiya Janata Party (BJP) schickt Narendra Modi ins Rennen. Der Hindu-Nationalist hat sich in seinem Heimatbundesstaat Gujarat als politisch kluger Kopf erwiesen und dort in den letzten zehn Jahren viel für die wirtschaftliche Entwicklung getan. Damit kann er in diesen Zeiten punkten, denn Indiens Wirtschaft ist ins Stottern geraten. Die einst so dynamische Ökonomie, die mit zweistelligen Wachstumsraten glänzte und ausländische Investoren magnetisch anzog, scheint ihren Zauber verloren zu haben. Inflation, hohe Lebensmittelpreise und politische Unsicherheit tragen zur wachsenden Unzufriedenheit bei. Modi, so glauben seine Anhänger, könnte das wieder richten.

Doch der 63-Jährige konnte bislang nicht den "Geist von Gujarat" abschütteln. Gegner beschuldigen ihn, die brutalen Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus 2002 in Gujarat nicht gestoppt zu haben. Damals kamen mehr als 1000 Menschen ums Leben. In den USA ist Modi wegen seiner angeblichen Verstrickungen in das Gujarat-Pogrom immer noch Persona non grata und darf das Land nicht besuchen. Sollte der Politiker, der in vielen Umfragen voranliegt, zum nächsten Regierungschef Indiens gewählt werden, dürfte es ihn einige Mühe kosten, Indien und dem Ausland zu versichern, dass er das Land mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern nicht polarisieren, sondern vereinen will. Die Wahl von Modi könnte auch das Verhältnis zwischen den Atommächten Indien und Pakistan trüben. Gerade vor dem Hintergrund des Nato-Abzugs aus Afghanistan ringen die beiden verfeindeten Nachbarn um die Vorherrschaft in der Region.

Neben den beiden alteingesessenen politischen Parteien in Indien - Kongress und BJP - macht in den letzten Monaten eine neue Kraft von sich reden, die die politische Landschaft nachhaltig verändern könnte. Die Aam-Aadmi-Partei (AAP), übersetzt "Partei des kleinen Mannes", geleitet von ihrem Gründer Arvind Kejriwal, hatte Ende 2013 das Wunder vollbracht und die Kongress-Partei in der Landtagswahl von Neu-Delhi besiegt. Die aus der Anti-Korruptionsbewegung hervorgegangene Organisation könnte sowohl dem Kongress als auch der BJP wichtige Stimmen kosten.

Es ist auch die schwierige Wirtschaftslage, die den unerwarteten Erfolg der AAP hervorgebracht hat. Ausländische Investoren scheinen die Geduld mit Indien verloren zu haben. Der ehemalige Star unter den aufsteigenden Wirtschaftsmächten wurde lange als das nächste China verkauft. Doch inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Im letzten Jahr nahm die amerikanische Investmentbank Morgan Stanley Indien in die Länder-Gruppe der "Fragile Five" (die gebrechlichen Fünf) auf - gemeinsam mit Brasilien, der Türkei, Südafrika und Indonesien. Der Finanzdienstleister argumentiert, dass diese Staaten zu sehr von den Launen ausländischer Investoren abhängig sind, um konstantes Wachstum aufzuweisen.

Preisexplosion trifft Arme

Die lahmende Wirtschaft kämpft zudem mit einer schwachen Währung: Die indische Rupie verlor im vergangenen Jahr um die 20 Prozent an Wert zum US-Dollar, die Inflationsrate liegt bei knapp zehn Prozent. Steigende Preise für Lebensmittel und Benzin belasten vor allem die ärmere Bevölkerung, aber auch den Mittelstand. Der Preis für Gemüse - von dem sich die Mehrheit der indischen Bevölkerung ernährt - hat sich zum vergangenen Jahr um 78 Prozent erhöht. Der Preis von Zwiebeln stieg sogar um sagenhafte 278 Prozent.

Der Tourismus hat unter den Berichten über Massenvergewaltigungen im letzten Jahr gelitten. Vor allem ausländische Urlauberinnen bleiben aus Furcht um ihre Sicherheit aus. Neue Berichte, wonach Neu-Delhi inzwischen die weltweit giftigste Luft hat, tragen auch nicht dazu bei, mehr Besucher anzulocken.

Die Wahlen sind jedoch auch eine willkommene Gelegenheit, das Negativ-Image des Landes wieder aufzubessern. Anders als in den Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan verlaufen Abstimmungen hier relativ friedlich. Trotz des riesigen logistischen Aufwandes sind Manipulationen und Fälschungen an den Urnen selten. Auch ohne den Blick in die Kristallkugel dürfte die größte demokratische Übung der Welt ein Erfolg sein.