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An seinem Küchentisch kann sich der britische Innenminister Jack Straw am besten konzentrieren. Neben ihm steht dann eine Tasse dampfenden Tees, und vor ihm liegt der rote Koffer, in dem
die Minister Ihrer Majestät traditionell ihre wichtigsten Unterlagen aufbewahren. Vor drei Wochen enthielt dieser Koffer das geheime Gutachten über den Gesundheitszustand des ehemaligen chilenischen
Diktators Augusto Pinochet. Nach allem, was bisher durchgesickert ist, las der Minister darin, dass Pinochet zu depressiv und senil ist, um einen Prozess durchzustehen. Und nach einigen Telefonaten
mit seinen Beratern dachte er sich: Das ist die Chance, um sich auf elegante Art aus der Affäre zu ziehen!
Nicht Politiker oder Richter, sondern Ärzte sollten den heiklen Fall entscheiden. Pinochets Sprecher Fernando Barros bezeichnete Straws Vorgehen zwar als "Ausweg eines Feiglings", doch die Mitarbeit
des 84 Jahre alten Generals war dem Minister gewiss. Am Montag wurde die neue Strategie nun auch vom höchsten britischen Zivilgericht abgesegnet: Der High Court in London wies eine Klage gegen Straw
ab. Zwar können die Kläger · die belgische Regierung und sechs Menschenrechtsgruppen · dagegen noch Berufung einlegen, doch die Chance auf Erfolg ist äußerst gering.
Straw war schon lange in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite forderten seine Labour-Parteifreunde die Auslieferung Pinochets an Spanien. Auch Straw selbst, der 1973 gegen den Militärputsch des
Generals demonstriert hatte, sähe es wahrscheinlich gern, wenn sich der mutmaßliche Massenmörder vor Gericht verantworten müsste. Aber aus Gründen der Staatsräson sprach immer mehr dafür, Pinochet
frei zu lassen: Die Beziehungen zu Chile wurden schwer belastet und drohten durch einen möglichen Tod Pinochets in Großbritannien völlig zerrüttet zu werden.
Da kam das ärztliche Gutachten wie gerufen. Um den altersschwachen Ex-Diktator endlich loszuwerden, ging Straw selbst so weit, Pinochets Anwälten die Geheimhaltung des Befunds vorzuschlagen. Das
sollte lästigen Fragen vorbeugen. Nicht nur Pinochets Gegner, auch der britische Ärzteverband protestierte gegen dieses ungewöhnliche Vorgehen. Doch Straw blieb hart.
Der General selbst hat inzwischen gelernt, sich nicht zu früh zu freuen: Schon mehrmals hatte er in den vergangenen 15 Monaten die Koffer gepackt, weil er glaubte, seine Freilassung stehe kurz bevor,
doch nie wurde etwas daraus. Seine Freunde sagen, nachts träume er von diesen Momenten. Diesmal allerdings sieht es ganz danach aus, als könne er bald wirklich aus seinem Rollstuhl in die wartende
Maschine der chilenischen Luftwaffe gehoben werden.