Arbeiter fordern in der Türkei höhere Löhne und echte gewerkschaftliche Vertretung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Istanbul. Drei Wochen vor den Parlamentswahlen ist die Regierung der Türkei mit einem unerwarteten Problem konfrontiert: Arbeiterunruhen in einer der wichtigsten Industriemetropolen des Landes.
In der westtürkischen Zweimillionenstadt Bursa weiten sich wilde Streiks in der Automobil- und Metallverarbeitungsindustrie aus. Bis zum Montag sind nach Angaben von linken Gewerkschaften bereits 11.000 Angestellte in einen unbefristeten Ausstand getreten. Sie fordern höhere Löhne und eine echte gewerkschaftliche Vertretung. In der Türkei werden die Streiks als weiteres Zeichen für das Ende des türkischen Wirtschaftsbooms interpretiert.
Das 220 Kilometer südöstlich von Istanbul gelegene Bursa unweit des Marmarameeresist die viertgrößte Stadt des Landes und bekannt als "türkisches Detroit", hier schlägt das Herz der türkischen Automobilindustrie. Große europäische Autokonzerne wie Renault und Fiat stellen in Joint Ventures mit türkischen Partnern KFZ für den türkischen Markt und für den Nahen Osten her. Zwei Drittel der rund 800.000 Fahrzeuge, die türkische Fabriken pro Jahr in alle Welt exportieren, werden hier gebaut. In der Stadt produzieren zudem bedeutende Industriefirmen wie Bosch, Arcelik oder Mako Haushalts- und Elektrogeräte.
Wachsende Wut der Arbeiter auf Gewerkschaften
Der Ausstand begann in der Oyak-Renault-Fabrik, dem größten Autohersteller des Landes. 2500 Beschäftigte der Nachtschicht legten am Freitagabend spontan die Arbeit nieder und besetzten den Betrieb. Ihre Forderungen trugen sie auf einer Kundgebung vor: größere Arbeitssicherheit, vor allem aber mehr Lohn, um die galoppierende Inflation auszugleichen. Die Arbeiter streiken des weiteren gegen den Tarifvertrag, der von der mit 180.000 Mitgliedern größten türkischen Metallarbeitergewerkschaft Türk-Metal vor acht Monaten unterschrieben wurde; sie werfen Türk-Metal vor, die Interessen der Arbeitgeber zu vertreten. Die Arbeitgebernähe vieler Gewerkschaften ist der Hauptgrund für massive Gewerkschaftsaustritte in der Türkei. Nach Angaben des Arbeitsministeriums waren 2003 noch 57,5 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, während es heute nur noch 9,7 Prozent sind.
Am Freitag schlossen sich die Beschäftigten des zweitgrößten türkischen Autoproduzenten Tofas-Fiat dem Streik an. Dann folgten Arbeiter wichtiger Zuliefererbetriebe wie Mako, Coskunöz oder SKT. Damit gewinnt in Bursa eine Entwicklung an Fahrt, die ihren Ursprung 2012 beim deutschen Waschmaschinenhersteller Bosch Türkiye nahm, als dessen 6000 Mitarbeiter dort eine Anhebung der Löhne verlangten. Mit einem Streik setzten sie Türk-Metal Anfang 2015 unter Druck, in ihrem Sinn zu verhandeln und erreichten, dass ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde, der ihnen 60 Prozent und einen durchschnittlichen Monatslohn von 600 Euro einbrachte.
Nach diesem Abschluss drängten auch die Belegschaften der anderen internationalen Konzerne in Bursa die Gewerkschaft Türk-Metal, den bisherigen Tarifvertrag aufzukündigen und neu zu verhandeln. Doch kam die Gewerkschaft dem Wunsch ebenso wenig nach wie der Metallindustrieverband Mess. Laut Berichten türkischer Medien begannen deshalb zunächst die Renault-Beschäftigten Mitte April mit Protestaktionen. Am 26. April demonstrierten tausende Metallarbeiter im Zentrum von Bursa für höhere Löhne, ordentliche Tarifverträge und Wahl der Gewerkschaftsvertreter durch die Basis. Sie gründeten einen fabrikübergreifenden Arbeiterrat.
Ausstände fürillegal erklärt
Als Anfang Mai Mitglieder von Türk-Metal gewerkschaftskritische Arbeiter verprügelten, fachte das den Zorn in den Fabriken an. Hunderte Arbeiter von Renault und Fiat traten aus der Gewerkschaft aus und nahmen an Protestkundgebungen teil. Kleine linke Gewerkschaften unterstützten sie. Als Renault daraufhin 16 "Rädelsführer" entließ, stoppten die Arbeiter die Laufbänder und erreichten damit deren Wiedereinstellung. Lohnerhöhungen wurden aber abgelehnt - daraufhin begann der Streik. Inzwischen erklärten die Arbeitgeber die Ausstände für gesetzwidrig. "Die Lage ist an einem Punkt angelangt, an dem sie eine ernste Gefahr für den Automobilsektor bedeutet", sagte ein Renault-Sprecher der Zeitung "Hürriyet". Bisher ist kein Einlenken erkennbar.
Die Streiks treffen die Türkei zu einem Zeitpunkt, an dem der Boom der vergangenen Jahre erlahmt ist. Das Wirtschaftswachstum blieb 2014 mit 2,9 Prozent weit hinter den Prognosen zurück, die offizielle Arbeitslosenquote hat mit 11,2 Prozenteinen neuen Höchststand erreicht, die hohe Inflationsrate von rund 10 Prozent macht den Verbrauchern schwer zu schaffen. Deshalb haben die Oppositionsparteien die schwierige Wirtschaftslage zum wichtigsten Thema ihrer Kampagnen für die Parlamentswahl am 7. Juni erklärt.