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Streit in der Türkei über Soldaten für den Libanon

Von Thomas Seibert

Europaarchiv

Parlamentsabstimmung wird mit Spannung erwartet. | Istanbul. (afp) UN-Generalsekretär Kofi Annan und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan können sagen, was sie wollen. Abdullah Caliskan bleibt bei seiner Meinung: Er ist gegen eine Beteiligung türkischer Soldaten an der UN-Truppe im Südlibanon. Und Caliskan ist nicht allein. Auch andere AKP-Abgeordnete denken wie er. Die Opposition ist ohnehin gegen alles, was die Regierung sagt, und selbst Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer lästerte öffentlich über den Unsinn einer Mission zur Sicherung der nationalen Interessen eines anderen Landes. Gespannt wartet das Land deshalb auf die Parlamentsentscheidung zur Truppenentsendung.


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Das Hauptargument der Regierung zugunsten einer Beteiligung an der UN-Truppe fasste Regierungssprecher Cemil Cicek nach einem Grundsatzbeschluss des Kabinetts in der Angelegenheit zusammen: "Wir können nicht Zuschauer bleiben." Die Türkei könne nicht einfach wegsehen, wenn in ihrer unmittelbarer Nachbarschaft ein Konflikt ausbreche, der die ganze Region bedrohe. Zudem, so argumentieren die Anhänger der Truppenentsendung, würde sich die Türkei selbst um jede Einflussmöglichkeit bringen, wenn sie bei der Friedenstruppe Nein sagte. "Wir müssen in den Libanon", soll Erdogan letzte Woche bei einer Sitzung der AKP-Führung als Parole ausgegeben haben.

Unbehagen über US-Pläne für Nahost

Diese kühlen außenpolitischen Argumente treffen beim Abgeordneten Caliskan und einigen seiner Kollegen auf ein Bauchgefühl, das etwas ganz Anderes sagt. Von finsteren amerikanischen Plänen für eine Neuordnung des Nahen Ostens ist da die Rede, von einem Hilfseinsatz für Israel, von möglichen Angriffen armenischer oder kurdischer Extremisten auf die türkischen Soldaten im Libanon - und von der Gefahr einer möglichen Konfrontation zwischen den sunnitischen türkischen Friedenssoldaten und der schiitischen Hisbollah.

Nicht nur die Politiker diskutieren. In Internetforen schimpften Teilnehmer am Dienstag angesichts der jüngsten Terroranschläge in den Urlaubsgebieten der Türkei, Ankara habe Besseres zu tun, als Soldaten ins Ausland zu schicken.

Während die Öffentlichkeit debattiert, muss Erdogan die Möglichkeit einkalkulieren, dass ihn seine Leute im Parlament im Stich lassen. Das Schlagwort "1. März" macht die Runde: Am 1. März 2003 lehnte das auch schon damals von der AKP beherrschte Parlament gegen den Willen der Regierung die Stationierung von US-Bodentruppen für den Angriff auf den Irak ab.

Heute ist die Lage allerdings anders. In etwas mehr als einem Jahr wird ein neues Parlament gewählt. Jeder AKP-Abgeordnete, der es jetzt wagt, dem Parteichef Erdogan die Gefolgschaft zu verweigern, spielt mit seiner Karriere.

Erdogan hat nicht viel Zeit, um die AKP-Dissidenten auf Linie zu bringen. Kommende Woche wird Kofi Annan in Ankara erwartet, wo er auch eine Rede im Parlament halten soll - bis dahin soll die Truppenentscheidung unter Dach und Fach sein.