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Streit muss sein

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

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Die ersten 100 Tage, die ersten sechs Monate, das erste Jahr: Für Politik wie Medien ist das Bilanzziehen in immer knapperen Abständen zur lieben Gewohnheit geworden. So gesehen haben all die Termine und Berichte zum ersten Jahrestag der türkis-blauen Regierung einen überschaubaren Überraschungseffekt. Weil aber keine Partei und kein Medium mehr verbindlich richtig von falsch oder auch nur sinnvoll von kontraproduktiv zu scheiden vermag, nimmt den Bürgern niemand die Mühe ab, sich einen eigenen Reim auf die Politik jeder Regierung machen zu müssen.

Viel interessanter ist ohnehin ein grundsätzlicherer Blick auf die Verhältnisse.

Die Geschichte der Zweiten Republik war, zumindest bisher, eine Erzählung über die Entpolitisierung des Politischen. Dass im Kern jedes politischen Konflikts notwendigerweise ein unauflöslicher Gegensatz steht, der noch dazu nichts mit Gut gegen Böse zu tun hat: Diese Einsicht wurde durch die Heiligsprechung jedes Kompromisses in Form der großen Koalition und der Sozialpartnerschaft verdrängt. Nur nicht streiten!

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist der friedliche Ausgleich widerstrebender Interessen das Herzstück in einer Demokratie, das es zu ehren und pflegen gilt. Damit das gelingt, ist es jedoch hilfreich, wenn sich eine Gesellschaft über das Wesen des Politischen verständigt.

Und genau dazu liefert die nunmehr seit einem Jahr konfrontative Neuausrichtung der österreichischen Innenpolitik einen Beitrag. Denn zu Zeiten der darniederliegenden großen Koalition wurde der grundsätzliche Konflikt zwischen wirtschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Interessen als etwas Widernatürliches wahrgenommen - und von den Medien auch entsprechend berichtet. Dies deshalb, weil die Konfliktparteien in einer Koalition zusammengespannt waren; dieser Umstand allein hat allerdings noch nie ein relevantes Problem zum Verschwinden gebracht.

Die derzeit praktizierte Härte der politischen Auseinandersetzung ist oft nicht schön, schon gar nicht schön anzuschauen; mitunter wirkt die Konfrontation sogar inszeniert, wenn man das geringe Ausmaß tatsächlicher Veränderung bedenkt. Und trotzdem ergibt diese konfrontative Konstellation ein wirklichkeitsgetreueres Abbild der politischen Interessen als der rot-schwarze Fassadenkonsens vergangener Jahrzehnte.

Sollten deshalb Parteien wie Bürger nun erkennen, dass Politik nichts für Menschen ist, die sich vorrangig nach persönlicher Zustimmung und Beliebtheit sehnen, sondern das natürliche Betätigungsfeld für Kämpfer, wäre dies der wichtigste Beitrag zur politischen Bildung dieses Landes seit langem.