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Polit-Debatte über Klassengesellschaft. | Berlin. Zerfällt Deutschland in eine Klassengesellschaft? Gibt es eine "Neue Unterschicht", die sich vom Rest der Bevölkerung abkoppelt, sich mit ihrem Elend abfindet und tatenlos resigniert?
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Mitten in den zarten Austrieben eines wirtschaftlichen Frühlings beherrscht die Debatte in Deutschland den politischen Herbst. Wer sie losgetreten hat, ist strittig: Die Liste reicht vom Entertainer Harald Schmidt ("Unterschichtfernsehen") über den Historiker Paul Nolte ("Neue Unterschicht") bis zu SPD-Chef Kurt Beck.
Letzterer hatte schon im Sommer aufhorchen lassen, als er Geringverdienern empfahl, beim Jahresurlaub zu sparen. Anfang Oktober beklagte er das Problem einer wachsenden Unterschicht: Ein großer Teil der Bevölkerung bemühe sich nicht mehr um sozialen Aufstieg. "Sie finden sich mit ihrer Situation ab". Früher habe es das elterliche Bestreben "meine Kinder sollen es einmal besser haben" gegeben. Nun bestehe die Gefahr, dass dieses Streben verloren gehe.
Beck: Heimlich rechts
Obwohl der Maurer-Sohn aus der Pfalz als klassischer Sozialdemokrat beschrieben wird, ist Kurt Beck gesellschaftspolitisch ein heimlicher Konservativer: Er stand fest hinter Gerhard Schröders neoliberaler Agenda 2010. Das von ihm regierte Rheinland-Pfalz ist das einzige SPD-regierte Land, das die Homo-Ehe ablehnt. Und nun beschwört er Begriffe wie Leistungsbereitschaft und Aufstieg.
Das hat ihm heftige Kritik aus den eigenen Reihen eingebracht. Einer der Führungsköpfe der SPD, Ottmar Schreiner, warf seiner Partei vor, mit den Hartz-IV-Reformen die Armutsproblematik mitverschuldet zu haben. Selbst Wolfgang Thierse, SPD-Politiker aus der früheren DDR, sprach von einer "Klassengesellschaft".
Im Nu erlangte die Debatte hochpolitische Brisanz. Kreti und Pleti sonderten sinnleere Sprüche ab: "Wer das Elend von Millionen Menschen bekämpfen will, muss für die Abschaffung der Hartz-Gesetze stimmen", weiß Oskar Lafontaine (PDS/Linkspartei); Stefan Hilsberg (SPD) nannte Hartz IV eine "Lebenslüge". Sie gaukle vor, dass mit Fordern und Fördern "jeder den ersten Arbeitsmarkt erreichen kann".
Neuer Streit, alter Hut
Da konnten die Grünen nicht nachstehen. Sie versuchten den Spagat zwischen rot-grüner Regierungs-Mitverantwortung und neuer Oppositionsrolle dadurch zu schaffen, dass sie auf das "Oberschichten-Problem" der Steuerhinterzieher und -flüchtlinge ablenkten. Sie fordern eine Aussprache im Bundestag.
Die ganze Debatte dient dazu, alte Forderungen in neuen Schläuchen zu recyclen: Für die einen heißt das härtere Strafen für Tachinierer, für die anderen Grundsicherung für jeden.
Die eigentlichen Auslöser der Debatte, die Experten der SPD-nahen Friedrich Ebert-Stiftung, fühlen sich indes missverstanden. Sie hatten die Ergebnisse einer Befragung zum Thema "Gesellschaft im Reformprozess" veröffentlicht. Aus methodischen Gründen teilten sie dabei die Antworten in neun Gruppen ein, an deren letzter Stelle "Das Abgehängte Prekariat" steht. Diese Gruppe von rund acht Prozent der Bevölkerung sei geprägt von "sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen".
Kanzlerin Angela Merkel hat inzwischen eine neue Bildungsoffensive angekündigt, weil sie sich nicht mit der "Spaltung der Gesellschaft" abfinden wolle.