Auschwitz als Symbol allein des jüdischen Leids - das wollen viele Polen nicht gelten lassen. Denn auch 75.000 nichtjüdische Polinnen und Polen wurden in dem Vernichtungslager ermordet. Jedes Volk verweist auf sein eigenes Martyrium. Die Beziehungen zwischen Polen und Juden gestalteten sich oft schwierig - auch noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.
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Katrin konnte sich nur wundern. So viel hatte die junge Frau über Kazimierz, das ehemalige jüdische Viertel in Krakau gelesen, so neugierig war sie darauf. Doch irgendetwas stimmte nicht daran. Zwar gab es viel mehr jüdische Restaurants als in der Wiener Leopoldstadt, wo Katrin wohnte. Die Häuser waren hübsch renoviert, zwei Synagogen waren da, auch jüdische Aufschriften. Sogar Führungen auf den Spuren von Steven Spielbergs "Schindlers Liste" wurden angeboten.
Doch von einer jüdischen Bevölkerung, wie in der Leopoldstadt, ist nichts zu sehen. In den Straßen schlendern Touristen, Kippas tragen nur ein paar israelische Schüler, die mit ihrer Klasse Polen besuchen. Was bleibt, ist Folklore für Touristen. Im jüdischen Restaurant "Ariel" sitzt eine Gruppe von Deutschen. Andächtig lauschen sie der Musik, gesprochen wird beim Essen nur im Flüsterton, wenn überhaupt. Es sind jiddische Lieder, die sie hören, dargebracht von einem polnisch-serbischen Ensemble.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das jüdische Leben in Polen nahezu ausgelöscht. Lebten allein in Warschau vor 1939 noch 350.000 Jüdinnen und Juden, waren nach 1945 nur mehr wenige am Leben. Drei Millionen wurden in den Jahren dazwischen ermordet. Doch die kommunistische Nachkriegsregierung bevorzugte eine andere Rechnung: Die drei Millionen Jüdinnen und Juden sowie die drei Millionen Menschen christlichen Glaubens wurden zu sechs Millionen polnischer Todesopfer addiert. Der Holocaust war zum polnischen Martyrium geworden, Auschwitz zu einem Symbol polnischen Leids. Umso mehr als über den Warschauer Aufstand im Jahr 1944, bei dem 140.000 Polinnen und Polen ums Leben gekommen waren, nicht gesprochen werden durfte. Angeführt wurde er nämlich von der von den Sowjets nicht anerkannten Heimatarmee.
Verschwiegene Kapitel
Zwar fand der Aufstand im Warschauer Ghetto, der ein Jahr zuvor stattgefunden hatte, Eingang in die Schulbücher. Auch von der Shoa hörten Kinder in den Schulen. Doch im Vordergrund stand die Pein des polnischen Volkes. Und von den Ereignissen des März 1968 war überhaupt nicht die Rede.
In den 60er-Jahren entluden sich in einer von der Regierung gelenkten antisemitischen Hetze zahlreiche Ressentiments. Jüdinnen und Juden wurden aus der Arbeit entlassen, zahlreiche Wissenschafter und Künstler sahen sich zur Emigration gezwungen, nach Israel, in die Vereinigten Staaten oder Frankreich. Bis heute ist dieses Kapitel polnischer Geschichte kaum offen gelegt.
Das Desinteresse am jüdischen Schicksal kam auch 1995 zum Ausdruck. Vor dem Vernichtungslager Auschwitz tauchte ein Wald von Kreuzen auf. Polnische Nationalisten wollten damit gegen die "jüdische Annexion" des Gedenkens protestieren. Religiöse Juden veranstalteten daraufhin eine separate Gedenkfeier.
Polen als Täter
Vor vier Jahren sorgte die Veröffentlichung eines schmalen Bändchens für heftige Diskussionen. Jan Tomasz Gross schrieb über das Pogrom im ostpolnischen Städtchen Jedwabne, wo 1941 beinahe die gesamte jüdische Gemeinde ausgerottet wurde. 1.600 Menschen wurden erstochen, erschlagen oder lebend in einer Scheune verbrannt - und das nicht von deutschen Soldaten sondern von Polen, die keineswegs dazu gezwungen wurden.
Der Aufschrei war groß. Polen nicht als Opfer sondern als Täter? Es kann sich nur um zionistische Propaganda handeln, wetterten nationalkonservative Zeitungen. Schmerzhaft war es für viele Polinnen und Polen, sich auch die eigene Verantwortung bewusst zu machen. 2001 entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwaœniewski für die Taten in Jedwabne.
In der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem werden 5.800 Polinnen und Polen geführt, die im Zweiten Weltkrieg jüdischen Menschen geholfen haben. Keine andere Nation weist mehr "Gerechte unter den Völkern" auf. Doch das Zusammenleben bleibt schwierig.