Zum Hauptinhalt springen

Stress ist herrlich dämlich

Von Eva Stanzl

Wissen
Er prescht vor, sie blickt zu ihm: Mann und Frau benehmen sich anders, wenn in Eile.
© Ole Graf/corbis

Wiener Forscher untersuchen Auswirkungen auf das Sozialverhalten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. "Der Chef ist ständig im Stress, sonst wäre er nicht immer so unfreundlich": Ab sofort ist diese Art von Erklärung kein Stück Küchenpsychologie mehr, sondern blankes Faktum. Wiener Forscher konnten nachweisen, dass Männer auf akute Stress-Situationen mit egozentrischem Verhalten reagieren. Die Wissenschafter waren allerdings davon ausgegangen, dass das bei Frauen ebenso ist. Das Gegenteil ist der Fall: Gestresste Frauen werden nicht defensiv, sondern besonders einfühlsam. Sie reagieren sogar angemessener auf eine Situation, als sie es tun, wenn die Lage entspannt ist.

Der Unterschied zwischen selbst- und fremdbezogenen Gefühlen und Denkvorgängen stellt eine Grundlage für die Fähigkeit dar, sich in andere hineinversetzen zu können. Diese Fähigkeit ist zentral für erfolgreichen sozialen Austausch. Und da es uns schwerfallen kann, Personen zu verstehen, deren Sichtweisen sich von unseren eigenen unterscheiden, haben Forscher um Claus Lamm und Livia Tomova von der Universität Wien untersucht, wie Stress sich auf diese Fähigkeit auswirkt.

Die Psychologen versetzten 40 Männer und 40 Frauen in akuten psychosozialen Stress (also nicht rein physiologischen Stress, bei dem der Körper ebenfalls das Hormon Cortisol ausschüttet, etwa wenn die Hand lange in eiskaltem Wasser liegt). Die Teilnehmenden mussten dafür eine öffentliche Präsentation halten und anspruchsvolle Rechenaufgaben unter Zeitdruck lösen (Trierer Stresstest). Der Anstieg von Pulsfrequenz und Cortisol bestätigte das Entstehen von Stress. Danach mussten die Versuchspersonen Aufgaben zur Messung von Mitgefühl und der Übernahme von Fremdgefühlen bearbeiten. In allen Aufgaben manifestierten sich bei Männern und Frauen entgegengesetzte Auswirkungen auf die sozialen Fähigkeiten.

Frauen konnten unter Stress besser zwischen selbst- und fremdbezogenen Gefühlen und Denkvorgängen unterscheiden als Männer. Die Probandinnen waren in der Lage, empathischer auf andere Personen zu reagieren. Männer legten hingegen ein Verhaltensmuster an den Tag, das eher mit einer klassischen Kampf- oder Fluchtreaktion erklärt werden kann. Dies führte dazu, dass sie sich unter Stress egozentrischer verhielten und weniger Mitgefühl zeigten. "Frauen reagieren nicht generell besser", betont Lamm: "Sie sind nur eher in der Lage, sich angemessen zu verhalten, je nachdem, wessen Bedürfnisse dringender befriedigt werden müssen."

Hormone als Ursache?

Wodurch diese entgegengesetzten Auswirkungen verursacht werden, bleibt zu klären: "Neben erziehungsbedingten und kulturellen Einflüssen müssen biologische Erklärungen berücksichtigt werden", sagt Lamm. Physiologisch stelle das Oxytocinsystem eine mögliche Einflussvariable dar. Frauen schütten unter Stress eine größere Menge des Hormons, das einen starken Einfluss auf das soziale Verhalten hat, aus als Männer. Nun wollen die Forscher untersuchen, ob die Unterschiede in der hormonellen Stressreaktion die unterschiedlichen Auswirkungen erklären können.

Stress ist ein wichtiger Mechanismus. In belastenden Situationen mobilisiert er den Organismus, sodass er diese bewältigen kann. Das ermöglicht uns, einen Feind in der Wildnis zu töten, oder viele Aufgaben in kurzer Zeit zu erledigen. Dafür werden momentan unwichtige Dinge nicht gespeichert - Cortisol hat negative Auswirkungen auf Gedächtnisprozesse. Ein Laie, der sich intensiv und schnell mit Molekularbiologie befasst, muss sich also nicht wundern, wenn sein Allgemeinwissen plötzlich durcheinanderkommt. Nur wenn er ständig im Stress ist, wird es gefährlich: "Dann schüttet der Körper ständig Cortisol aus, und Betroffene merken sich insgesamt weniger", sagt Lamm.

Zur Studie "Is stress affecting our ability to tune into others? Evidence for gender differences in the effects of stress on self-other distinction"