Vor den Parlamentswahlen in Estland war Schlimmes befürchtet worden. Negativthemen bestimmten den Wahlkampf.
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Estland gilt als smartes Land. Der kleine Staat im Nordosten Europas mit nur 1,3 Millionen Einwohner ist zum Erfolgsbeispiel für die europäische Integration geworden. Als digitaler Trendsetter hat es sich sogar Weltruhm erworben. Aus Estland kommen die geistigen Gründer von Skype. Das dynamische Land hat einst einen Generationenwechsel vollzogen und bereits Ende der 1990er Jahre etwa die Schulen digitalisiert. Die Steuererklärung erfolgt per Mausklick, Verwaltungsgänge sind quasi überflüssig.
Der schlanke Staat sorgt für günstige Wettbewerbsbedingungen im rohstoffarmen Land: Die Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr um 3,9 Prozent, die Exporte legten sogar um zwölf Prozent zu, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie schon seit 20 Jahren nicht mehr. Selbst das E-Voting gilt bereits seit 2005 landesweit. Mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten entschied sich diesmal für elektronische Stimmabgabe, die auch per Smartphone möglich ist. Die Wahlbeteiligung lag bei 63,1 Prozent.
Vor den Parlamentswahlen war in Estland Schlimmes befürchtet worden. Zu massiv bestimmten Negativthemen den Wahlkampf, zumal auch Fake News eine Rolle spielten: eine Immigrationsdebatte in einem Land mit kaum Flüchtlingen, Geldwäscheskandale bei den estnischen Filialen der Danske Bank und Swedbank und zuletzt die Verwicklung in den Dopingskandal der Langläufer.
Zwar konnten die radikalen Rechtspopulisten, die Estnische Konservative Partei (EKRE), ihr Wahlergebnis verdoppeln und 17,8 Prozent der Stimmen erringen. Dennoch sind Regierungsoptionen ohne sie möglich. Nach der Auszählung aller Stimmen kommt die oppositionelle wirtschaftsliberale Reformpartei auf 28,8 Prozent. Die prowestliche Partei erhält damit in der Volksvertretung Riigikoku 34 von 101 Sitzen - und ist, wie oft in der jüngeren Vergangenheit, stärkste Kraft.
Neue Ministerpräsidentin wird Kaja Kallas werden, die erst vor weniger als einem Jahr die Führung der Partei übernahm. Sie ist die Tochter des Parteigründers Siim Kallas, der selbst Ministerpräsident und später EU-Kommissar war. Er trat diesmal auch selber wieder bei den Parlamentswahlen an. Damit gelingt der wirtschaftsliberalen Partei ein Comeback, nachdem sie während der letzten Legislaturperiode, im November 2016, von den beiden Juniorpartnern in der Regierung, den Sozialdemokraten und der Mitte-Rechtspartei "Vaterland", "ausgetauscht" wurde.
Profiteur war damals die Zentrumspartei, die anschließend mit Jüri Ratas den Ministerpräsidenten stellte. Die linksliberale Partei findet vor allem bei der russischstämmigen Bevölkerung Zuspruch. Lange galt sich national nicht als koalitionsfähig, auch, weil sie einen Kooperationsvertrag mit Wladimir Putins "Einiges Russland" hat, der nun auf Eis liegt. Ratas distanzierte sich auch damit vom Übervater der Partei, dem langjährigen Tallinner Oberbürgermeister Edgar Savissar, und sorgte für eine moderatere Ausrichtung. Die Liberalen setzten sich nun ziemlich klar von der Partei ab, die auf 23 Prozent kam.
Die Regierungsverhandlungen werden entweder zu einer großen Koalition oder zu einem Dreierbündnis ohne EKRE führen. Ersteres ist wahrscheinlicher, zumal beide potenziellen Partner auf europäischer Ebene Mitglieder der liberalen Parteienfamilie sind. Dennoch werden die Rechtspopulisten weiterhin Themen setzen. Mit ihrer Rhetorik gegen die EU konnte sie gerade in ländlichen Regionen punkten, auch mit ihrem Plädoyer für traditionelle Werte und gegen Homosexuelle. An den Feiern zum Unabhängigkeitstag, genau eine Woche vor der Parlamentswahl, konnte sie mit einem Fackelaufmarsch am Freiheitsplatz tausende Menschen mobilisieren. Die Bilder fanden auch im Ausland Beachtung. Doch spielte das Thema Sicherheit eine erstaunlich geringe Rolle im aktuellen Wahlkampf. Die Angst vor dem großen Nachbarn Russland hatte im Zuge der Krim-Besetzung und der Ukrainekrise bei den Parlamentswahlen vor vier Jahren noch dominiert.
Die neue Regierung wird den prowestlichen Kurs fortsetzen und versuchen, weiterhin Wirtschaftsreformen durchzusetzen. Als Schlüssel dient nach wie vor die Digitalisierung. Ein weiterhin sensibles Thema bleibt die Integration der russischstämmigen Minderheit gerade im Bildungssystem. Neben der estnischen Mehrheit, fast 70 Prozent, lebt in dem EU- und Euro-Land eine große russische Minderheit, an die 26 Prozent. In der Hauptstadt Tallinn, wo sich das politische und wirtschaftliche Leben abspielt, sind 45 Prozent der Einwohner keine ethnischen Esten.
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