Vom Hassobjekt zum Hoffnungsträger - die Armee greift ein.
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Kairo. Niemand weiß, wer Ägypten Ende dieser Woche regieren wird: Ein Übergangspräsident, der Generalstabschef - oder kann sich Präsident Mohammed Mursi mit letzter Kraft über Wasser halten? Sicher ist nur, dass die Revolution, die im Februar 2011 mit dem Sturz Hosni Mubaraks begonnen hat, in eine neue Phase getreten ist. Für die ägyptischen Zeitungen sind die Stunden des moderaten Islamisten an der Staatsspitze bereits gezählt. Die oppositionelle Zeitung "El Watan" prophezeit den Muslimbrüdern ein schnelles Ende, für die staatliche "El Akhbar" wartet ganz Ägypten darauf, dass die Armee rasch tätig wird.
Dem frommen Mann im Präsidentenpalast schwimmen in atemberaubendem Tempo die Felle davon. Die Armee hat ihm bis heute Mittwoch Zeit gegeben, die verschiedenen politischen Kräfte im Land miteinander zu versöhnen. Eine unmögliche Aufgabe. Das weiß niemand besser als Mursi selbst, der nicht anders kann, als die Aufforderung der Generäle zurückzuweisen: Man habe nicht mit ihm darüber gesprochen, er werde einen eigenen Versöhnungsplan zur Anwendung bringen, tönt es trotzig aus dem Kairoer Präsidentenpalast. Führende Funktionäre der Muslimbrüder sprechen bereits von einem "Staatsstreich" des Militärs. Die Frage ist, ob der Taktiker Mursi jetzt mit politischen Manövern Zeit gewinnen kann.
Einen direkten Gegenspieler hat der in den Seilen hängende Präsident auch schon: Er heißt Abdel Fattah el-Sisi, ist nicht nur Verteidigungsminister, sondern vor allem Generalstabschef der wirtschaftlich mächtigen ägyptischen Armee - und er hat in dieser Funktion den Präsidenten respektlos aufgefordert, dem Willen des Volkes binnen 48 Stunden nachzukommen und alle politischen Kräfte an der Macht zu beteiligen.
Stromausfälle, Armut,
Arbeitslosigkeit
Das Problem aus Sicht Mursis ist, dass die Opposition Gespräche verweigert. Sechs Kabinettsmitglieder, unter ihnen Außenminister Mohamed Kamel Amr, sind zurückgetreten; sie stammen alle nicht aus den Reihen der Muslimbrüder. Mursi verliert aber auch bei seinen eigenen Leuten an Rückhalt, zwei Sprecher haben bereits das Weite gesucht.
Neue Entwicklungen machen mehr als deutlich, wie sehr sich das Blatt wendet. Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud, der im November von Mursi persönlich entlassen worden war, ist plötzlich wieder im Amt. Mursi hatte Mahmoud gefeuert, einen Nachfolger eingesetzt und gleichzeitig verfügt, dass Entscheidungen des ägyptischen Präsidenten rechtlich unanfechtbar sind. Von vielen Beobachtern wird das als der eigentliche Sündenfall Mursis gewertet. Dazu kommt, dass der Präsident als ökonomischer Analphabet gilt: In der Tat werden die Ägypter von Stromausfällen, Benzinknappheit, steigenden Preisen und Arbeitslosigkeit geplagt. Besonders betroffen sind, wie immer, die Armen und damit jene Menschen, die bis jetzt die Machtbasis der Muslimbrüder festigten. Die Frustration über die nicht stattfindende wirtschaftliche Entwicklung ist Nährboden für die Massendemonstrationen.
Die Drohung der Armee, Mursi das Ruder aus der Hand zu nehmen, wiegt jedenfalls schwer: Sollten die Versöhnungsbemühungen scheitern, dann soll eine Roadmap der Armee in Kraft treten. Den jungen Ägyptern, die sich über Facebook organisieren, gefällt, dass das Militär die Muskeln spielen lässt. Wie schon im Winter 2011, als Diktator Hosni Mubarak gestürzt wurde, stellt sich die Armee auf die Seite der Demonstranten und bringt die Mächtigen in Bedrängnis. In einer beeindruckenden Demonstration ließen die Generäle am Montag mit ägyptischen Fahnen bewehrte Hubschrauber über den Kairoer Tahrir-Platz kreisen. Die Botschaft lautet: Mit uns ist nicht zu spaßen. Wie in den Tagen der Revolution in den Wintertagen des Jahres 2011 ziehen Demonstranten und Armee an einem Strang. Als die Militärs diesen Montag ihr Ultimatum erklärten, brandete am Tahrir-Platz Jubel auf.
Zeit der Militärherrschaft
ist vorbei
Die Generäle werden eingreifen, sobald sie der Ansicht sind, dass das Land im Chaos versinkt oder auf einen Bürgerkrieg zusteuert. Am Sonntag hat es bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Gegnern und -Anhängern 16 Todesopfer gegeben. Am Dienstagabend kam es in mehreren Städten zu Zusammenstößen und Schusswechseln zwischen Gegnern und Anhängern Mursis. Mindestens zwei Menschen wurden getötet, Dutzende verletzt. Die Armee will nach eigenen Angaben verhindern, dass weiteres, kostbares ägyptisches Blut vergossen wird. Auch die Anhänger der Muslimbrüder haben sich in Kairo versammelt, eine Eskalation ist nicht auszuschließen.
Die Generäle machen keine Anstalten, das Land in eine Diktatur zu verwandeln. Eine Zeit der faktischen Militärherrschaft hat Ägypten gerade erst hinter sich. Nach dem Sturz Mubaraks übernahm ein Offiziersgremium unter Ex-Armeechef Hussein Tantawi das Ruder. Es kam in den Monaten nach der Revolution erneut zu Massenverhaftungen, Folterungen und massiven Einschränkungen der Meinungsfreiheit.
Die meisten Ägypter wollten die Uniformierten so schnell wie möglich loswerden, jetzt gilt die Armee wieder als großer Hoffnungsträger.