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Stur nach Vorschrift

Von Reinhard Göweil

Politik
WZ-Montage

Analyse: Die Regeln der Institutionen haben zu einer Patt-Situation geführt, in der es Europa zerreißen kann..| Griechenland-Analyse des IWF (PDF, englisch)


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Wien. "If you can’t change the rules, change the game", lautet ein gängiges Sprichwort, wenn Verhandlungen in eine Sackgasse geraten sind. Seit Wochen ignoriert die EU diesen Satz beziehungsweise spielen manche Politiker ganz verschiedene Spiele. Was sich rund um Griechenland abspielt, ist schwer zu verstehen. Wer kennt sich in diesem Regelwerk eigentlich noch aus?

Der Internationale Währungsfonds (IWF) etwa hat so seine Regeln: Er darf Ländern, deren Schuldentragfähigkeit nicht mehr sicher ist, keine Kredite vergeben. Genau das hat der (IWF) nun Griechenland attestiert.

Ohne eine mindestens 30-jährige Fristerstreckung der Altschulden wird Griechenland damit nicht umgehen können, so der Befund der Experten in Washington. Oder es gibt einen Schuldenschnitt, aber genau da kommt eine andere Regel zum Tragen: In den Verträgen zur Währungsunion Anfang der 1990er wurde vereinbart, dass es keinen sogenannten Bail-out von Eurostaaten geben darf - also die Übernahme von Staatsschulden durch andere EU-Staaten.

Genau das wäre aber der Fall, denn die Euro-Krise hat - erraten - ein Regelwerk gebracht, das etwa griechischen Schulden von privaten Gläubigern massiv in öffentliche Hände umgeschichtet hat. Mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Regierung, damals einer Koalition aus CDU/CSU und FDP.

Daneben muss auch die Europäische Zentralbank (EZB) Regeln befolgen, etwa bei der Vergabe von Notkrediten an Banken. Die werden ELA genannt, "Emergency Liquidity Assistance". Solche Kredite zur Aufrechterhaltung eines nationalen Bankensystems sind nur dann möglich, wenn es für das betreffende Land ein aufrechtes Hilfsprogramm gibt. Nun hat die EZB in der Vergangenheit ihre Regeln öfters gedehnt, denn ohne diesen Kniffgäbe es den Euro nicht mehr. Nun sind die griechischen Banken seit zwei Wochen geschlossen - ein "künstliches Koma" nannte es der Vorstand der Deutschen Bundesbank, Andreas Dombret.

Vor dem Kollaps

Die EZB hat jetzt die aktuellen ELA-Kredite in Höhe von 88,6 Milliarden Euro wenigstens auf diesem Stand eingefroren und nicht zurückgefordert. Dombret fordert, dass Griechenland das bis 2016 vereinbarte Bankeninsolvenzgesetz bereits jetzt durchs Parlament jagen soll. Das sind keine guten Neuigkeiten, denn die Schließung der Banken hat schon bisher die griechische Wirtschaft schwer beschädigt. Wenn das so weitergeht, könnten auch Firmen, die ordentlich wirtschaften, und Privatpersonen, die eigentlich Guthaben auf der Bank haben, in die Insolvenz getrieben werden. Um es kurz und bündig auszudrücken: Die griechische Volkswirtschaft und mit ihr elf Millionen Bürger stehen vor einem ökonomischen Kollaps.

Nicht etwa, weil Griechenland in der Vergangenheit über seinen Verhältnissen gelebt hat, sondern weil ein verzweigtes, unüberschaubares Regelwerk jene, die heute agieren könnten, zum Nichtstun verurteilt.

Ein weiteres Beispiel: Griechenland soll etwa 80 Milliarden Euro vom ESM, dem "Europäischen Stabilitätsmechanismus", erhalten, sobald es die vereinbarten Reformen auf den Weg gebracht hat. Bis dahin werden aber Wochen vergehen, und am kommenden Montag muss Griechenland der EZB einen Kredit über 3,5 Milliarden Euro zurückzahlen. Dabei gilt die Regel, dass bei Nichteinhaltung der Zahlungsfrist das Land sofort als insolvent einzustufen ist. Die EZB müsste den griechischen Banken dann ihre ELA-Kredite über 88,6 Milliarden Euro fällig stellen, was deren sofortige Insolvenz zur Folge hätte.

Und die vom griechischen Parlament akzeptierten Reformen wären sofort hinfällig, weil eine neue Situation eingetreten wäre - und das Hilfsansuchen an den ESM ebenfalls.

Einstimmigkeit

Damit ist mit Regeln noch längst nicht Schluss: Um genau das zu verhindern, braucht Griechenland eine "Brückenfinanzierung", um seine Verbindlichkeiten decken zu können. Die EU-Kommission möchte dafür den EFSF verwenden, den nach wie vor bestehenden interimistischen Vorgänger des ESM. Der EFSF (wie diese Abkürzung zustande kam, ist eine eigene Regel, Anm. d. Red.) ist aber kein Euro-, sondern ein EU-Instrument. Hier zahlen auch Länder wie Großbritannien, Dänemark oder Schweden mit, die zwar der EU, aber nicht der Eurozone angehören.

Engstirnig

Der britische Premier, der mit seinem "Brexit" dem "Grexit" die sprachliche Vorlage lieferte, hat bereits abgelehnt, Griechenland zu helfen. Und es gehört natürlich auch zu den Regeln, dass für solche Beschlüsse Einstimmigkeit notwendig ist. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates der deutschen Regierung, Christoph Schmidt, ein angesehener Ökonom, sagte zur Kritik aus den USA an den Regeln der EU: "Man muss sich schon fragen, ob Paul Krugman und Joseph Stiglitz verstanden haben, wie Europa konstruiert ist. Wir sind eigenständige Staaten, die sich im Rahmen der Gemeinschaft verbindliche Regeln auferlegt haben. Das zu negieren und nicht an die lange Frist zu denken, ist engstirnig und intolerant."

Das ist ein interessanter Satz, denn genau diese Regeln führen derzeit Europa in eine Situation, die auch in Europa selbst von Wirtschaftsprofessoren als gefährlicher eingestuft wird als ein Griechenland, das in der Statistik geschummelt hat. Denn das Korsett des engen, wenig abgestimmten Regelwerkes führt derzeit zu folgenden Entwicklungen: Die traditionelle starke deutsch-französische Achse, die am Beginn der EU stand und Treiber des Fortschritts war, sieht sich ihrer bisher größten Belastung ausgesetzt. Die deutschen Forderungen an Griechenland, die von Angela Merkel am Montag durchgeboxt wurden, finden in Paris wenig Zustimmung. In Wahrheit befindet sich Frankreichs Premier Manuel Valls auf Konfrontationskurs mit dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, damit die beiden "Chefs", François Hollande und Merkel, nicht öffentlich streiten müssen.

Gefahr für Stabilität

Frankreich unterstützte zuletzt die unerfahrene griechische Regierung von Premier Alexis Tsipras massiv, was Berlin recht ungerührt ließ. Am Mittwoch ließ die deutsche Regierung noch sickern, es sei eigentlich unverantwortlich, dass Tsipras für den Fall des Scheiterns, also des "Grexit", keinen Plan B ausgearbeitet habe. Dass Tsipras immer betonte, er wolle in der Eurozone bleiben, wird im deutschen Finanzministerium mit Argwohn betrachtet.

Ebenso in Paris und Rom. Dort macht das Schlagwort vom "deutschen Europa", das ein "europäisches Deutschland" Helmut Kohl’scher Prägung ablösen soll, die Runde. Für die Stabilität der Europäischen Union ist dies alles Gift.

Im Verein mit recht rabiaten Medien sind in Deutschland mehr als 80 Prozent gegen neue Hilfe für Griechenland. Zum Vergleich: In Österreich sind es laut einer ÖGfE-Umfrage von voriger Woche etwas mehr als 40 Prozent. Dazu kommen verheerende Sätze wie jener des stellvertretenden CDU-Parteichefs Thomas Strobl: "Der Grieche hat lang genug genervt." In Europa gehen deutsche Zuschreibungen wie "Zuchtmeister" und (noch ärger) "Herrenmensch" um. Dass in einer solchen Situation die weitere Entwicklung Europas nicht einfacher wird, wird auch in der EU-Kommission in Brüsseleingeräumt. Jean-Claude Juncker soll mit der Situation alles andere als glücklich sein, wie aus seinem Umfeld zu hören ist.

Ziemlich unheimlich ist das Ganze den Amerikanern. Heute, Donnerstag, wird US-Finanzminister Jacob Lew einfliegen und mit EZB-Präsident Mario Draghi, dem deutschen Finanzminister Schäuble und dessen französischem Amtskollegen Michel Sapin konferieren. Die USA fürchten eine dauerhafte Schwächung des Euro und Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Nicht zu Unrecht, denn die 19 Euroländer sind der kaufkräftigste Binnenmarkt der Welt. Und das immer stärker werdende Deutschland erhöht die Ungleichgewichte in der Eurozone immer weiter.

Kurioserweise sind die Deutschen bisher die absoluten Gewinner der Griechenland-Krise. Bisher bezahlten die Griechen die Zinsen anstandslos, für deutsche Banken ein gutes Geschäft. Und die Krise zwang die EZB zu einem Fluten der Märkte, was den Euro-Dollar-Kurs von 1,35 auf 1,10 abstürzen ließ. Für die deutsche Exportwirtschaft ist dies wie ein geschenktes Konjunkturprogramm, die Industrie kann ihren Mitarbeitern daher üppigere Lohnerhöhungen gewähren. Während also rundherum gespart wird, wird Deutschland immer reicher.

Machtprobe der Konservativen

Probleme wurden exportiert: Die Hartz-IV-Reformen haben in Deutschland einen Billiglohnsektor entstehen lassen, der mit 20 Prozent der Gesamtbeschäftigten der größte in Europa ist. Viele Ostdeutsche arbeiten daher in Österreich, da es hierzulande Kollektivverträge gibt, in denen die Löhne weit über dem Niveau der frei vereinbarten Bezüge festgeschrieben sind, die in den "neuen Bundesländern" des reichsten Landes Europas üblich sind.

"Es ist ein Machtkampf konservativer Kräfte, die ihr System der Ungerechtigkeit in Europa aufrechterhalten wollen", meinte der Linke Tsipras am Mittwoch. Den USA und China geht es wohl weniger um politische Vorherrschaft als vielmehr um die Absicherung ihrer Märkte. Interessant ist, dass sie dabei zu ökonomisch ähnlichen Ergebnissen kommen wie die linken Protestbewegungen in Europa. Welcher Regel dies folgt, sei dahingestellt, genau diese Regel gibt es in Europa aber offenkundig nicht . . .