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Sturm auf den Maidan

Von Gerhard Lechner

Politik

Proteste fordern Tote auf beiden Seiten - Angst vor totaler Eskalation steigt.


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Kiew/Moskau. Die jüngste Entspannung in der Ukraine war nur eine Atempause: Kurz nachdem es zu Wochenbeginn so ausgesehen hatte, als würde sich die Lage in dem zerrissenen Land langsam entspannen; kurz nach der Freilassung von mehr als 200 inhaftierten Demonstranten und dem Rückzug der Protestbewegung aus dem Kiewer Rathaus ist der Konflikt am Dienstag wieder in aller Schärfe eskaliert.

Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte haben am Abend begonnen, den von tausenden Regierungsgegnern besetzten Maidan, den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Kiew, zu stürmen. Die Polizei bewegte sich mit Wasserwerfern zu dem Zentrum der Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch vor. Demonstranten schossen mit Feuerwerkskörpern und versuchten, die Sicherheitskräfte mit starken Laserpointern zu blenden. Vereinzelt marschierten Spezialpolizisten der Berkut-Einheiten auf die brennenden Barrikaden zu. Das Innenministerium hatte kurz vor Beginn des Einsatzes die etwa 20.000 versammelten Regierungsgegner zum Verlassen des Platzes aufgefordert. Es folge eine "Anti-Terror-Operation", hieß es. Die Oppositionsführung rief Frauen und Kinder in ihren Reihen auf, den Platz zu verlassen.

Die Lage war bereits tagsüber außer Kontrolle geraten: Mindestens drei Regierungsgegner und ein Mitarbeiter der regierenden "Partei der Regionen" (PdR) wurden nach Angaben von Ärzten bei Ausschreitungen mit den Sicherheitskräften getötet, der US-TV-Sender CNN berichtete von mindestens 15 Toten. Die Demonstranten seien von Schüssen getroffen worden, sagte Oleg Mussiji, der Chef des Ärzteteams der Opposition. Fotos der Leichen kursierten am Dienstag bereits in Kiew. Zudem wurden mindestens 150 Demonstranten und 37 Polizisten verletzt. Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier äußerte in einer ersten Reaktion seine Bestürzung über die Entwicklungen in Kiew. Gleichzeitig machte er klar, dass es Sache der Sicherheitskräfte sei, für eine Deeskalation der Lage zu sorgen. Sollte es zu weiteren Gewaltakten kommen, dann werde die bisher an den Tag gelegte Zurückhaltung der EU ein Ende haben, so der Minister. Damit könnten der Ukraine Sanktionen ins Haus stehen. Die ukrainische Führung forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Gewalt von Regierungsgegnern zu verurteilen. "Radikale Kräfte haben in Kiew und anderen Städten der Ukraine einen neuen, durch nichts zu rechtfertigenden Ausbruch von Gewalt und Gesetzlosigkeit initiiert", zitierten Medien Außenminister Leonid Koschara.

Keine Verfassungsänderung

Am Dienstagmorgen hatte alles noch friedlich begonnen: 20.000 Oppositionsanhänger zogen zur Werchowna Rada, dem Parlament in Kiew, um für eine Reform der Verfassung zu demonstrieren. Präsident Wiktor Janukowitsch war es im Herbst 2010 gelungen, sich weitreichende Befugnisse zu sichern. Seither hat der Präsident aus dem ostukrainischen Donbass seine Verfügungsgewalt über Parlament und Justiz weiter ausgebaut. Die Opposition will nun zur jener Verfassung zurückkehren, die im Zuge der Orangen Revolution in Kraft gesetzt wurde und in der der Präsident deutlich weniger Rechte hatte.

Allein: Die Machthaber in Kiew zeigten sich solchen Wünschen gegenüber unbeeindruckt. Parlamentspräsident Wolodymyr Rybak von Janukowitschs PdR ließ die Frage der Änderung der Verfassung, über die zuletzt breit diskutiert wurde, nicht einmal auf die Tagesordnung der Rada setzen. Daraufhin brach auf der Straße der Sturm los, Demonstranten schleuderten Steine auf die Polizeibeamten.

Die Sicherheitskräfte zeigten sich jedoch vorbereitet: Da der Marsch zum Parlament überall angekündigt worden war, hatte man auf den Dächern bereits Polizisten mit Blendgranaten in Stellung gebracht, die auch abgefeuert wurden. Die Proteste breiteten sich danach in Windeseile aus. Beide Seiten sollen Schusswaffen eingesetzt haben. Eine Gruppe Regierungsgegner griff die Parteizentrale der regierenden PdR in Kiew mit Molotowcocktails an und stürmte das Gebäude. Ein Mitarbeiter der PdR wurde bei der Erstürmung des Gebäudes offenbar von einem Demonstranten gelyncht - Rettungskräfte hatten eine Leiche entdeckt.

"Es gibt jetzt die Gefahr, dass die Situation völlig aus dem Ruder läuft, dass die Lage unkontrollierbar wird", sagte der Politologe Kyryl Savin aus Kiew der "Wiener Zeitung". "Jetzt können jederzeit überall Straßenschlachten ausbrechen", befürchtet der Leiter der Heinrich-Böll-Stifung in Kiew. Mykhaylo Banakh von der Kiewer "Renaissance-Stiftung" des Milliardärs George Soros verweist darauf, dass derzeit tausende der Opposition nahestehende Westukrainer nach Kiew reisen - die wurden am Dienstagabend aber an der Stadtgrenze gestoppt, Sicherheitskräfte riegelten die Zufahrtswege in die Hauptstadt ab.

U-Bahn stellt Betrieb ein

Tatsächlich spitzte sich die Situation am späten Nachmittag zu: Der Nahverkehr der 2,8-Millionen-Einwohner-Metropole brach streckenweise zusammen, weil die Metro in der ukrainischen Hauptstadt aufgrund der Straßenschlachten ihren Betrieb vollständig eingestellt hatte. Gleichzeitig stellte das Innenministerium den Demonstranten ein Ultimatum und drohte damit, "alle vom Gesetz erlaubten Mittel" einzusetzen, um die "Massenunruhen" zu beenden. Und die Polizei rückte auf die Stellungen der Opposition im Stadtzentrum vor. "Am Maidan gibt es genug Waffen. Am Schwarzmarkt kann man in der Ukraine eine Kalaschnikow um 800 Euro kaufen", sieht Savin die Gefahr einer totalen Eskalation. Der "Pravyj Sektor", die Organisation des radikalen Teils der Demonstranten, hat bereits vor dem Beginn der Räumung des Maidan dazu aufgerufen, mit Schusswaffen auf den Unabhängigkeitsplatz zu kommen.

Angesichts der Dramatik der Lage gingen die Gespräche zwischen Janukowitsch und der Opposition weiter. Am späten Dienstagabend fand eine Sondersitzung des Parlaments statt, es gibt mehrere Gespräche zwischen dem Präsidenten und den drei Oppositionsführern Arseni Jazenjuk, Witali Klitschko und Oleh Tjahnybok. Die Gräben sind aber tief, das Misstrauen groß. Klitschko, der Chef der zweitgrößten Oppositionspartei "Udar" (Schlag), forderte den Westen zur Intervention auf. Die Spitzen demokratischer Staaten dürften nicht tatenlos zusehen, "wie ein blutiger Diktator sein Volk tötet", sagte Klitschko. "Die Regierung hat bewusst eine Provokation organisiert, um den Unabhängigkeitsplatz mit Blut und Gewalt auseinanderzujagen, und die Proteste und die Aktivisten zu vernichten", meinte der Ex-Boxweltmeister und warf Janukowitsch "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor.

Debatte um Sanktionen

In der EU geht indessen die Debatte um Sanktionen gegen das Regime in Kiew weiter. Jazenjuk und Klitschko diskutierten bei einem Treffen mit Deutschlands Kanzlerin Merkel über europäische Finanzhilfen und mögliche Strafmaßnahmen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton verurteilte jede Gewalt "einschließlich jener gegen öffentliche Gebäude oder Parteigebäude", auch die USA verurteilten den "übermäßigen Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten". Russland gab bekannt, dass man der Ukraine noch in dieser Woche zwei Milliarden Dollar an Hilfsgeldern überweisen will. Der Kreml hatte Ende Jänner seine Zahlungen an die Ukraine auf Eis gelegt.