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Sturmlauf gegen düsteren Diktator

Von Gerhard Lechner aus Weißrussland

Europaarchiv
Sieger Lukaschenko. Foto: ap

Präsident erhält nach offiziellen Angaben 80 Prozent der Stimmen. | Wahlergebnis wird von Bevölkerung in Minsk angezweifelt. | Minsk. Lidia Jermoschina gab sich schockiert: "Sie haben das Gesetz übertreten", so die Chefin der Wahlkommission im weißrussischen Staatsfunk an die Adresse der Oppositionellen, die nach den Präsidentenwahlen gegen die offenbar manipulierten Präsidentenwahlen demonstriert hatten. Vor zwei Wochen hatte das Regime des autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko per Dekret auf neuralgischen Punkten der Innenstadt - auch auf dem Oktoberplatz, von wo aus die Proteste ihren Anfang nahmen - Versammlungen dieser Art verbieten lassen. | Die Wahlen waren wie ein großes Volksfest | Analyse


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Über das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten und Oppositionspolitiker - einer unter ihnen, Wladimir Neklajew, wurde krankenhausreif geprügelt, fast alle anderen inhaftiert - schwieg sich das Fernsehen freilich aus. Stattdessen dominierten Klagen über den Imageschaden, den das Land durch die Proteste der Oppositionellen erleide.

Die von führenden Oppositionellen seit langem angekündigten Proteste am Sonntagabend gegen das amtliche Wahlergebnis (79,67 Prozent für den Amtsinhaber) gerieten zur größten Demonstration gegen das Lukaschenko-Regime seit 1996. "Verschwinde! Verschwinde!", schrien sich vor allem viele junge Demonstranten den lange aufgestauten Frust auf den Diktator von der Seele.

Aus einem der orthodoxen Liturgie entlehnten "Kreuzgang" am Oktoberplatz wurde ein Protestmarsch, der den gesamten "Prospekt der Unabhängigkeit", die Prachtstraße von Minsk, lahmlegte. Etliche Autos wirkten plötzlich wie Inseln im Menschenmeer eingekeilt. Immer wieder wurde "Shyje, Belarus!" ("Weißrussland, lebe!") gebrüllt und die weiß-rot-weiße Nationalflagge geschwenkt - beides Erkennungszeichen der Opposition, die vom Regime verboten sind. Ziel des offenbar spontan entstandenen Marsches war nicht der nahe gelegene Präsidentenpalast, sondern das am anderen Ende des Prospekts gelegene Parlamentsgebäude, in dem sich auch die Zentrale Wahlkommission befindet. Schließlich eskalierte die Situation am "Platz der Unabhängigkeit", dem alten Leninplatz, vor dem Parlamentsgebäude: "Öffnet die Türen", rief eine Stimme aus der Menge den weiter vorne postierten Demonstranten zu. Als diese mit Schaufeln die Türen des Gebäudes aufzubrechen suchten, kreiste die Miliz die Demonstranten ein und löste unter Einsatz von Knüppeln die Versammlung auf. Hunderte Demonstranten wurden in der Folge festgenommen.

Politiker verschwand

Zu dem Zeitpunkt war der Menge bereits bekannt, dass Oppositions-Favorit Neklajew von der Polizei gezielt angegriffen worden war. Seine Frau hatte angegeben, ihr Mann habe einen Marsch hunderter Anhänger zum Oktoberplatz angeführt und sei dabei von der Polizei gewaltsam gestoppt worden. Bilder und Videos zeigten den Dichter und Schriftsteller mit blutender Nase und einem geschwollenen Auge, wie er von seinen Anhängern in ein Krankenhaus gebracht wird.

Was dann geschah, ist unklar: Zunächst hieß es, Neklajew sei von Unbekannten in Zivil gewaltsam an einen unbekannten Ort gebracht worden, dann wieder, er befände sich noch im Krankenhaus. Seine Pressestelle war nicht erreichbar. Auch der Präsidentschaftskandidat Andrei Sannikow konnte am Montag nicht erreicht werden. Sannikow, der Führer der Plattform "Europäisches Belarus", wurde ebenso wie seine Frau Irina Chalip - eine bekannte Journalistin, die im Westen Auszeichnungen erhielt - als Teilnehmer an den Protesten verhaftet. Laut Berichten wurde auch der Vorsitzende des belarussischen Helsinki-Komitees, Oleg Gulak, von Polizisten abgeführt - wie auch Präsidentschaftskandidat Witalij Rymaschewskij.

Dass die Wahlen frei und fair waren, glauben in Minsk nur dezidierte Anhänger des Präsidenten. "Zehn Prozent bekommt er bei einer freien Abstimmung in Minsk", glaubt ein Hauptstädter, der an den Protesten teilnahm. Auch wenn diese Schätzung sehr gewagt ist: Wer am Wahltag in Minsk öffentliche Verkehrsmittel benutzte und in Diskussionen über die Wahl hineingezogen wurde, wird kaum glauben können, dass Lukaschenko in der Hauptstadt mehr als 50 Prozent erreicht hat. Ein OSZE-Sprecher erklärte gegenüber der "Wiener Zeitung", dass die Auszählung der Stimmen nicht frei gewesen sei, ebenso wenig der Zugang zu Massenmedien, die in fast grotesker Weise für den Präsidenten warben.

Vom Staatsfunk prominent ins Bild gesetzt wurde am Sonntagabend auch das Statement eines Österreichers: Ex-Vizekanzler Hubert Gorbach war auf Einladung des weißrussischen Außenministers als Wahlbeobachter in Minsk und bescheinigte dem Regime einen sauberen Verlauf des Urnengangs (siehe Interview unten).