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Sturzflug ohne Notfallplan

Von Reinhard Göweil aus Brüssel

Wirtschaft

Verschiedene Krisen vereinigen sich - Kritik an Regierungschefs.


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Brüssel."Wenn ein Flugzeug in den Sturzflug übergeht, gibt es für die Piloten ein Handbuch, was zu tun ist und in welcher Reihenfolge. In Europa gibt es ein solches Handbuch nicht", stellte ein Zentralbanker fest. In Brüssel ist nun endgültig Feuer am Dach, seitdem sich die Schulden-, Polit- und Banken-Krise zu einem wenig wohlschmeckenden Eintopf vermischen.

Was mit Griechenland begann, ist ein europaweites Problem geworden. Aus Sicht des EU-Parlaments sind die nationalen Regierungen dafür verantwortlich. "Alles, was die Währung betrifft, muss EU-weit gemeinschaftlich gemacht werden. Die politische Union ist das Ziel", umreißt es Othmar Karas, Delegationsleiter der Volkspartei-Mandatare im EU-Parlament. Die Regierungen - auch jene in Wien - haben dies nicht erkannt und damit die Lage verschlimmert.

Prüfung der Politik auf "EU-Verträglichkeit"

"Wir brauchen eine EU-Verträglichkeitsprüfung in der österreichischen Innenpolitik", ätzt Karas. Dieser Befund wird fraktionsübergreifend gemacht. "Die Bundesregierung betreibt keine europäische Politik", sagt auch Jörg Leichtfried, der die österreichischen Sozialdemokraten im Brüsseler Parlament anführt. "Die Arbeitnehmerbewegungen begreifen Europa nicht als politische Herausforderung." Ins gleiche Horn stößt der Deutsche Wolf Klinz von den Liberalen. "Die Nationalstaaten haben global keine Chance. Die EU muss in der Welt mit einer Stimme sprechen." Davon ist Europa weit weg. "Die jetzige Struktur stimmt nicht."

Was alle Abgeordneten - wie auch die US-Regierung und den Internationalen Währungsfonds - stört, ist die Kakophonie. An der Euro-Rettung reden entscheidend mit: Der Chef der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet, EU-Währungskommissar Olli Rehn, der Eurogruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker (Luxemburgs Regierungschef), der Finanzminister des jeweiligen EU-Vorsitzlandes (derzeit Polen), EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy sowie die Finanzminister und Regierungschefs von Deutschland und Frankreich.

"Zwischen sieben und neun Leute geben ihre Meinung zum Euro ab. Das kann ja nicht funktionieren", so Klinz. Daneben haben die Regierungschefs Parallel-Strukturen geschaffen, die es offiziell gar nicht gibt. "Beschlüsse der 17 Euroländer-Regierungschefs helfen niemand, weil es dieses Gremium in den EU-Verträgen gar nicht gibt. Das EU-Parlament blieb beim Euro-Rettungsschirm außen vor, weil die 17 Regierungschefs und Finanzminister dies untereinander ausmachten. Wenn Bürger die EU ablehnen, dann auch wegen solcher politischer Winkelzüge."

Nun kommt allerdings Bewegung in die Sache, denn die Krisen spitzen sich zu: Die Konjunktur stürzt ab, im kommenden Jahr gibt es kaum noch Wachstum.

Griechisches Horror-Szenario

Für Griechenland hat das desaströse Auswirkungen. Karas: "Griechenland könnte nächstes Jahr um neun Prozent schrumpfen - die Schulden könnten bis auf 200 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen." Ein Horror-Szenario, das verständlich macht, warum das Land wohl seine Schulden nicht zurückzahlen wird können. Ein Schuldenschnitt zwischen 50 und 70 Prozent wird in Expertenkreisen diskutiert. Auch Italien hat gröbere Probleme.

Und hier vermengt sich die nächste Krise mit den Banken und stürzt auch sie in die neue Krise. Der September 2011 war wohl wirtschaftspolitisch betrachtet der schlimmste Monat, seitdem es die Globalisierung gibt.

Ein aktueller Reuters-Test ergab, dass in Europa 18 Banken zirka 40 Milliarden Euro an Eigenkapital fehlen, da sie Staatsanleihen abwerten müssten. Das wiederum hat Auswirkungen auf andere europäische Banken, die diesen Instituten Geld geliehen haben. Eine Bank musste schon aufgefangen werden, die französisch-belgische Dexia. "Der Streit zwischen den beiden Ländern um die Aufteilung der Lasten beweist, dass es kein gemeinsames Handeln gibt", kritisierte ein Notenbanker. Nach einem Krisentreffen in Frankfurt, an dem auch die Chefs von Internationalem Währungsfonds und Weltbank sowie Angela Merkel teilnahmen, soll nun die neue Europäische Bankenaufsicht (EBA) einen Vorschlag machen, wie der Krise zu begegnen ist. Sie sitzt in London und wurde erst jüngst gegründet - als Folge der ersten Bankenkrise 2008. "Die EBA ist noch nicht sehr gefestigt, ob sie dazu bereits in der Lage ist, bleibt abzuwarten", sagte ein hoher Kommissionsbeamter in Brüssel.

Bürgerprotest gegen Bankenrettung

Dazu kommt der wachsende Bürgerprotest gegen eine weitere Banken-Rettung. "Dexia ist bereits einmal gerettet worden und hat Ende 2008 insgesamt fast acht Milliarden Euro von den Staaten Frankreich und Belgien erhalten. Aber die Bank hat einfach weitergemacht, als ob nichts gewesen ist. Nun steht sie wieder vor dem Aus", ärgert sich ein EU-Parlamentarier.

Wenn Angela Merkel also meint, Banken zu retten sei ein gutes Investment, so zeigt ein Blick auf die Bürgerproteste in Europa ein anderes Bild. Hohe Arbeitslosigkeit wird in Kauf genommen, um die nationalen Budgets zu sanieren. Kaum wackelt eine Bank sind aber neue Milliarden vorhanden - dieser Eindruck entsteht derzeit. "Die Proteste in den USA gegen die Wall Street (siehe Seite 7) können rasch nach Europa überschwappen", meint man im Europäischen Gewerkschaftsbund in Brüssel. "Dann wird es für die Regierungen und die EZB schwierig." EU-Währungskommissar Olli Rehn, sein Präsident Jose Manuel Barroso und auch Angela Merkel sprechen sich für eine "europäische Antwort" aus. Wie die ausschauen soll, weiß allerdings niemand.

Am 17. und 18. Oktober wird sich ein EU-Gipfel damit beschäftigen, bis dahin sollte auch der Euro-Rettungsschirm von allen nationalen Parlamenten ratifiziert sein. Und hier tut sich das nächste Defizit auf: Er wird auf 440 Milliarden Euro ausgedehnt. Das sei groß genug, versprachen die Regierungschefs. "Das ist zu wenig", meint die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde - und auch die EU-Kommission.

Wie aber soll man eine weitere Ausweitung argumentieren? "Faktum ist, dass sich während des Ratifizierungsprozesses die Situation deutlich verschlimmert hat. Innerhalb weniger Wochen haben sich die Umstände geändert", erklärte ein Mitarbeiter Olli Rehns.

Das Geld wirdbei allen knapp

Daher soll nun die Beteiligung privater Investoren an der Griechenland-Rettung erhöht werden. 21 Prozent Abschreibung auf Griechenland-Papiere, das war vorgesehen. Nun soll dies erhöht werden. Das wiederum trifft die europäischen Banken, die danach ihr Kapital erhöhen müssen. "Die Kapitalbeschaffung über Börse oder die bestehenden Eigentümer scheidet de facto aus", räumt man in der EZB ein. "Die Aktienkurse sind zu niedrig, um das nötige Volumen darzustellen."

Bleiben also erneut die Staaten, die aber auch kein Geld mehr haben, sondern unter Druck stehen, die Schulden zu reduzieren. Also will nun auch der Internationale Währungsfonds Anleihen europäischer Staaten kaufen, vor allem spanische und italienische. Und auch die USA werden zunehmend nervös. Deren Haushalt ist ebenfalls hoch verschuldet, mit 100 Prozent der Wirtschaftsleistung sogar deutlich höher als die EU-Länder. Dazu kommen Vorschläge, die ebenfalls hoch verschuldeten privaten US-Haushalte über einen Schuldenschnitt zu entlasten. "Europa muss rascher agieren", sagte US-Präsident Barack Obama. "Sonst ist die wirtschaftliche Erholung global gefährdet." In Brüssel wird das zweifelhafte Kompliment zurückgegeben: Die USA hätten selbst genug zu tun. Anfang November treffen sich die Chefs der 20 größten Industrienationen, um den Krisen-Eintopf mit wohlschmeckenden Gewürzen genießbar zu machen.

Große Wirtschaftsmächte G20 als Weltregierung?

Möglich ist, dass es angesichts der Tiefe der Krise doch echte Bewegung gibt. So wird derzeit heftig um ein generelles Verbot auf Spekulations-Finanzprodukte auf Staatsanleihen gestritten, sogenannte Kreditausfallversicherungen. Das scheiterte bisher am Widerstand Großbritanniens, da die Londoner City der größte Anleihemarkt der Welt ist - und Tausende Jobs dran hängen.

Außerdem wird überlegt, den G20 einen völkerrechtlichen Status zu geben - analog zur Weltgesundheitsorganisation WHO oder Weltfreihandelsorganisation WTO. Damit würden die G20 zu einer Art Weltregierung, deren Entscheidungen verbindlich wären. Derzeit haben sie ja nur Empfehlungscharakter.

"Das ist eine gute Idee", meinte ein EU-Parlamentarier. "Aber ob wir noch bis Anfang November Zeit haben, um einen Kollaps zu vermeiden, vermag ich nicht zu sagen." Er wollte jedenfalls namentlich nicht genannt werden.