Unter Schulz herrscht Chaos in der SPD. Aufstieg und drohenden Fall des Parteichefs in vier Schritten.
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Berlin/Wien. Das Dilemma, die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der SPD lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen. Zum Unglück der Partei stammen beide von ihrem Vorsitzenden, Martin Schulz: "Wir scheuen Neuwahlen nicht", verkündete er am 20. November. In der Nacht zuvor waren die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen für eine "Jamaika"-Koalition geplatzt. Nun sagt Schulz im "Spiegel": "Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft." Denn diesen Sonntag entscheiden rund 600 SPD-Delegierte bei einem Sonderparteitag in Bonn, ob die Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen mit der konservativen Union eintreten sollen.
Martin Schulz hat sich und die SPD in eine ausweglose Lage manövriert. Dabei ist er vor knapp zwölf Monaten angetreten, um das 2005 verlorene Kanzleramt für die Sozialdemokraten zurückzuerobern. Aufstieg und möglicher Fall von Schulz vollzogen sich in vier Schritten:
1. Euphorie ohne eigenes Zutun entfacht
Anfang 2017 herrscht bei der SPD Tristesse. In die Umfragen liegt sie knapp über 20 Prozent, rund 15 Prozentpunkte hinter CDU/CSU. Parteichef Sigmar Gabriel spürt, dass ihm die Genossen keinen Erfolg gegen Angela Merkel bei der Bundestagswahl im September zutrauen. Er überlässt Martin Schulz das Feld. Der langjährige EU-Parlamentspräsident ist in der deutschen Innenpolitik ein Unbekannter. Das macht ihn interessant für Publikum und Medien, sie greifen nach jedem Informationshäppchen. Noch dazu spricht Schulz offen über seine Enttäuschung, als es mit dem Traumziel Fußballer nichts wurde, er daraufhin dem Alkohol verfiel. Dieser Stil ist ungewohnt in Berlin. Die spröde Kanzlerin Angela Merkel lässt die Öffentlichkeit gerade einmal wissen, dass sie zur Entspannung gerne Kartoffelsuppe kocht. Nach mehr als elf Jahren Merkel im Kanzleramt gieren die Wähler nach einer Alternative, die SPD ist - ohne viel eigenes Zutun - Mitte März in Umfragen auf Augenhöhe mit der Union. Und Schulz wird mit 100 Prozent zum SPD-Chef gekürt.
2. Option Linkspartei läutet den Abstieg ein
Analog zur bundesweiten Lage holt die SPD im Saarland auf. Ausgerechnet das kleinste Flächenland mit nur 800.000 Wahlberechtigten wird aber zum Wendepunkt. Am Wahltag Ende März liegt die SPD zehn Prozentpunkte hinter der CDU. Die Konservativen mobilisieren kurz vor dem Votum, indem sie Angst vor einem rot-rot-grünen Bündnis schüren. Im Westen der Bundesrepublik ist eine Regierungsbeteiligung der Linken vielen ein Horror. Trotzdem schließt Schulz die Linke nicht aus, denn alleine mit den Grünen schafft er keine Mehrheit.
Mit diesem Dilemma weicht die teils hymnische Berichterstattung immer öfter kritischen Fragen. Plötzlich zählt, dass Schulz keine Regierungserfahrung mitbringt, vom Bürgermeisteramt der Kleinstadt Würselen abgesehen. Aus Bodenständigkeit wird Provinzialität, erst recht gemessen an der langjährigen Kanzlerin Merkel und in Zeiten von Brexit und Donald Trump im Weißen Haus. Schulz’ Expertise aus 22 Jahren im Europaparlament geht unter. Nicht aber damalige Äußerungen, etwa für die Einführung von Eurobonds zur gemeinschaftlichen EU-Schuldenverantwortung - was von den meisten Deutschen rundweg abgelehnt wird.
Zwei weitere Wahlniederlagen beschleunigen den Abwärtstrend, im Besonderen der Verlust des sozialdemokratischen Kernlandes Nordrhein-Westfalen. "Ich bin nur noch am Niederlagen-Kommentieren. Ich hab die Schnauze voll davon", sagt der Kanzlerkandidat laut einer "Spiegel"-Reportage. Mitte Mai ist der "Schulz-Effekt" verpufft.
3. Ein Wahlkampf zum Abgewöhnen
Wie schon 2013 unter dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück versucht es die SPD mit dem Thema soziale Gerechtigkeit. Zwar ist das Wahlprogramm im Vergleich zur Union präzise, doch die entscheidenden öffentlichkeitswirksamen Punkte fehlen. Altersarmut, läppisch bezahlte Jobs und fehlende Vollzeitstellen sind zwar in der Tat ein Problem, gleichzeitig vermeldet Deutschland Monat für Monat Rekordzahlen bei Erwerbstätigkeit und Steuereinnahmen sowie Tiefststände bei Arbeitslosigkeit und Schulden. Soziale Gerechtigkeit wird zum Rohrkrepierer.
Neben inhaltlichen prägen handwerkliche Fehler den Wahlkampf. Sein kurzes Hoch verdankte Schulz auch, dass er sich von Härtefällen der Sozial- und Arbeitsmarktreform Agenda 2010 distanzierte. Doch ausgerechnet Agenda-Kanzler und Reizfigur Gerhard Schröder tritt beim Parteitag im Juni auf.
4. Kein Druck auf die "Jamaika"-Sondierer
Bei 20,5 Prozent landet die SPD am 24. September. Schulz und die Parteispitze ziehen aus dem schlechtesten Ergebnis der Sozialdemokraten in der Geschichte der BRD die logische Konsequenz: Opposition. Dass "Jamaika" scheitert, hat alle Parteien kalt erwischt. Doch Schulz macht am Tag danach den entscheidenden Fehler: Anstatt den Druck bei CDU, CSU, FDP und Grünen zu belassen, doch noch einig zu werden, indem er auf dem Oppositionskurs beharrt, bringt Schulz - unterstützt vom SPD-Präsidium - abermals die Neuwahloption aufs Tapet. Damit stürzt er die Partei in ein Dilemma.
Unbestritten ist, dass die SPD nicht wie bisher weitermachen kann. Aber wie kann die vielbemühte Profilschärfung in der Praxis klappen, wenn sich der Apparat auf eine erneute Wahlkampagne vorzubreiten hat? Das sieht auch Schulz mittlerweile ein.
In der nun von ihm favorisierten Rolle als Juniorpartner konnten die Sozialdemokraten weder bei den darauffolgenden Wahlen 2009 noch 2017 reüssieren. Und das, obwohl die SPD zuletzt Kernanliegen durchsetzte: Mindestlohn, Mietpreisbremse und Pension mit 63. Warum sollte es bei der nächsten Wahl anders sein?
Kommt Schwarz-Rot tatsächlich, wie kann eine Neuauflage verhindern, dass die politischen Ränder weiter gestärkt werden? AfD und Linkspartei vereinigen bereits jetzt mehr als ein Fünftel der Wählerstimmen auf sich.
Scheitern Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles am Sonntag mit ihrem Wunsch nach Koalitionsverhandlungen, muss die SPD aber zuallererst eine andere Frage lösen: Mit welchem Personal macht sie weiter?