Zum Hauptinhalt springen

Substanz vor Form

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Angela Merkel hat recht: Eine Lösung der Migration nach Europa kann nur durch eine europäische Regelung erfolgen. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass die CSU-Forderung nach Abweisung von bereits in anderen EU-Staaten registrierten Flüchtlingen in Deutschland - und nicht nur dort - mehrheitsfähig ist.

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass sich die von einer liberalen Elite aufgestellten Gebote mit den Forderungen und Wünschen anders gepolter Mehrheiten auf Kollisionskurs befinden. Diese Konfliktlinie ist der rote Faden unserer Gegenwart.

Diesen Konflikt kann man nun moralisch oder politisch interpretieren. Auf der Ebene der Moral stehen einander Mitmenschlichkeit im Umgang mit Fremden und Schutzsuchenden und deren Gegenteil gegenüber. In der Regel gibt es, wie häufig, wenn Gut gegen Böse steht, nicht viel zu diskutieren. Und dass sich die andere Seite weigert, die Moral der Gegenseite für sich zu übernehmen, stärkt jene weiter in ihren Überzeugungen.

Politisch stecken schon mehr Grauschattierungen in dieser Auseinandersetzung, die Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer persönlich verbittert, aber stellvertretend für ganz Europa austragen. Tatsache ist, dass es auch drei Jahre nach dem großen Flüchtlingsstrom nach Mittel- und Nordeuropa keine europäische Lösung gibt. Daran ändert auch der Hinweis wenig, dass die Zahlen weit unter den damaligen Höchstwerten liegen.

Der Kompromiss, auf den sich Merkel und die Bayern am Montag in höchster Not verständigt haben, ist ein Spiel auf Zeit: Die deutsche Kanzlerin hat nun zwei Wochen Zeit, bilaterale Abkommen mit den hauptbetroffenen Südstaaten, also vor allem Griechenland und Italien, zu erreichen. Schafft sie das nicht, drohen Bayern und Innenminister Seehofer mit einem Alleingang, was gleichbedeutend mit dem Ende der mühsam zustande gebrachten deutschen Koalition wäre - mit heute noch unabsehbaren Folgen für die ganze Europäische Union.

Merkel kann allerdings den Druck, der jetzt auf ihr lastet, zum Teil an ihre Verhandlungspartner weiterreichen. Rom, Athen, Paris, der Balkan und auch Brüssel: Sie alle wissen, was sie an der überzeugten Europäerin Merkel haben. Sie alle würden erheblich unter einem politischen Chaos in Berlin leiden.

Und die EU beginnt sich zu bewegen: Die EU-Kommission hat in ihrer Not bereits ihre Unterstützung für bilaterale Absprachen unter den EU-Staaten erklärt. Das kommt einer epochalen Kehrtwende in Brüssel gleich, wo bisher auf der Illusion einer EU-weiten Lösung beharrt wurde. Die Substanz zählt ab sofort mehr als die Form. Das ist nicht das erste Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein.