Europas politische Klasse verachtet zunehmend ihre Wähler. Das wird leider nicht sehr hilfreich sein.
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"Das Problem", meinte der deutsche Bundesspräsident Joachim Gauck im Vorlauf zur Brexit-Volksabstimmung in der ARD, seien derzeit "nicht die Eliten, sondern die Wähler". Das Problem, lernen wir aus diesem entwaffnend ehrlichen Satz, ist vor allem die unfassbar anmaßende, überhebliche und respektbefreite Haltung, in der seit einiger Zeit angestellte Spitzenfunktionäre des Staates, aber auch große Teile des polit-medialen Komplexes in Westeuropa dem Souverän entgegentreten. Wann immer dieser Souverän in einem demokratischen Entscheid nicht so votiert, wie es den Eliten gefällt, wird dieser Souverän zum imbezilen Vollidioten erklärt, der zu blöd ist, an der richtigen Stelle sein Kreuz zu machen. Wobei die richtige Stelle natürlich die ist, die von den herrschenden Eliten für richtig gehalten wird.
So auch bei der jüngsten Volksabstimmung in Großbritannien, wo schnell der Schuldige am unbotmäßigen Ergebnis gefunden ward. Ältere, weniger gebildete und sozial schlechter Gestellte auf dem Lande hätten die Mehrheit für den Austritt herbeigeführt und dabei Urbane, Gebildete und vor allem Jüngere um ihre Zukunft gebracht. Dunkelengland, sozusagen.
Unterschlagen wird in dieser mittlerweile Allgemeingut gewordenen Analyse, dass die Jungen unter 24 Jahren mit einer Wahlbeteiligung von bloß 36 Prozent weitgehend auf ihr Stimmrecht verzichteten, von dem in der Generation 55 plus weit mehr als 80 Prozent Gebrauch gemacht haben. Heißt: Nicht hinterwäldlerische alte Deppen haben die intelligente, urbane Jugend um ihre Zukunft gebracht. Sondern die hat ihre eigene Zukunft schlicht und einfach durch Nichtwählen verschlafen. Hätten mehr gebildete, kosmopolitische und urbane Junge ihren Hintern zur Urne bewegt, gäbe es keinen Brexit. Aber das passt halt nicht so gut in die Erzählung von den alten, nationalistischen Idioten, die alles vermasselt haben.
Europas Eliten - in der Politik wie in den Medien - neigen dazu, dem Souverän, wenn er sich in ihren Augen verwählt hat, mit pädagogischen Maßnahmen zu begegnen. "Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen", drohte EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker den Briten vor dem Votum. "Das steht für die Haltung der Kommission ebenso wie für die Einstellung anderer Regierungen." Nur zur Erinnerung: Der Deserteur gilt in jeder Armee der Welt als Verbrecher, mit dem im Krieg meist eher kurzer Prozess gemacht wird. Eine demokratische Abstimmung damit zu vergleichen, zeugt von einem interessanten demokratiepolitischen Verständnis des obersten EU-Funktionärs. Und genau diese Mentalität ist das Problem.
Es stimmt zweifellos, dass immer mehr Wähler immer weniger imstande sind, informierte Entscheidungen zu treffen, die für das Funktionieren von Demokratie notwendig sind. Es ist dies im Großen und Ganzen freilich keine frei gewählte Unmündigkeit, sondern nicht zuletzt einer von den politischen Eliten zu verantwortenden Degeneration der Demokratie und zu einem Teil des Unterhaltungsgeschäftes geschuldet. Dem Wähler das vorzuhalten, bedeutet frei nach Erich Kästner, ihn zu zwingen, von dem Kakao, durch den man ihn gezogen hat, auch noch zu trinken.