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Süchtig nach Notwehr

Von Gerald Schmickl und Franz Zauner

Reflexionen

Sprachmächtige gegen Sprachlose: Der Rechts- Extremismus ist ein Produkt des Konkurrenzkampfes um Formen von Gegenwärtigkeit. - Erinnerung an ein paar gute, abgehangene Thesen.


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Das Milchgesicht erklärt, dass die stinkenden Kanaken aus Deutschland hinaus geprügelt gehören. Der kaum 18-jährige Jüngling ist sichtlich betrunken, seine Zunge schwer, er schwankt. Während seiner Tirade zuckt und ruckt er wie eine Parodie auf den Führer. Die Milchgesichter im Auditorium, ebenfalls besoffen, johlen und grölen. Parteitag einer rechten Splittergruppe. Genüsslich filmt die Kamera die befremdliche Folklore.

Die Rechtsradikalen haben die Medien erobert. Jeder Sender, der auf sich hält, widmet ihnen wenigstens einmal im Monat eine Reportage. In jeder Stadt zwischen Amerika und Russland finden sich ein paar Verrückte, die für einen rechtsradikalen Auftritt gut sind. "Hail HeitIer", rufen die amerikanischen Neonazis vor einer Büste des Führers für die TV-Dokumentation "Blood in the face". Sie tragen, wie alle Volksgenossen, Schnürstiefel und Militärjacken, sie haben Glatzen und Reindlfrisuren, sie stammeln Parolen und formulieren paranoide Befürchtungen, sie glorifizieren Faschismus und Nationalsozialismus, sie hassen Ausländer und Minderheiten, sie fuchteln mit Baseballschlägern und Pump-Guns, manchmal schlagen sie auch zu.

Hat es der militante Rechtsradikalismus geschafft, zur bevorzugten Ausdrucksform der Verstörten, Verirrten und Verrückten aller Länder zu werden? Über bizarres Privatvergnügen, das ist unbestritten, ist das längst hinausgewachsen. Auch abseits des klassisch-antifaschistischen Feindbildes lässt sich ein gestiegener Bedarf nach Ausgrenzung, Repression, charismatischer Führerschaft bemerken. Ein Einengungs-und Umzingelungsgefühl beginnt Menschen quer durch alle Klassen und Gruppen zu befallen. Eine Sehnsucht nach dem kurzen Prozess breitet sich aus. Ein Kult der Notwehr entsteht.

Ideologische Balancen

Vielleicht hat das auch mit einer Art unausweichlicher Balance politisch-ideologischer Mentalitäten zu tun: rutscht die eine auf der Popularitätsskala nach unten, treibt es die andere automatisch hoch. Seit alles "Linke", das in verschiedensten politischen, akademischen und lebensweltlichen Variationen und Radikalitätsgraden die letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts ein beachtliches gesellschaftliches "Standing" hatte, im sozialen Index rapide verfällt, schaukelt wieder allerlei "Rechtes" ins gesellschaftliche Wahrnehmungsfeld. Dass die Etiketten "links" und "rechts" anachronistisch wären, keine Aussagekraft mehr besäßen, behauptet und wünscht sich ja nur die Linke, die sich nicht mehr gerne als solche bezeichnet sehen will. Die Rechte hat mit der ihr entsprechenden Zuordnung weniger Probleme.

Die Rechtstendenz ist auch keine deutsch-österreichische Spezialität, sie zeigt sich in vielen Ländern. Das "Outcoming" reaktionärer und vor allem faschistischer Regungen hat schlicht und einfach europäische Konjunktur, wird positiv sanktioniert, schon alleine durch massives mediales Echo, das bisweilen, wie einst gegenüber der militanten Linken, an Hysterie grenzt. Ob positiv oder negativ berichtet wird, bleibt sich da ziemlich gleich; Sozialarbeiter, die im rechtsradikalen Milieu arbeiten, erzählen gelegentlich, dass ihre Schützlinge erst aus dem Fernsehen erfahren haben, dass sie wie die Nazis wären.

Der Schock sitzt jedenfalls tief, und er ist leichter erklärbar als seine Ursache: Zum einen rückt eine historisch erledigt geglaubte Phänomenologie wieder ins Blickfeld, zum anderen scheint es nichts zu geben, was sicher vor ihr schützt. Ein selbstbewusstes, auf Institutionen statt Gefühlen und Scheinmoral basierendes Bürgertum wäre wohl das stärkste Bollwerk gegen faschistische Tendenzen, aber die demokratischen Manöver, die einerseits auf übertriebener Angst und Panikmache beruhen, anderseits in endloser Verständnisbereitschaft, populistischen Anbiederungen und unmissverständlichen Vorformulierungen faschistischer Positionen kulminieren, zeugen von einem Mangel an demokratischer Selbstsicherheit.

Von einem Sprechen und Denken, das der Komplexität des Phänomens gewachsen wäre, sind wir mitunter weit entfernt. Was wir öfter hatten, war selbstgefällige Moralistik, mediale Hype, Parteien-Hickhack - Rituale einer Fassadendemokratie.

Im klerikalen Ständestaat Dollfußscher Prägung gibt es ein hausgemachtes historisches Beispiel dafür, dass machtverfestigte Philister-Politik und -kultur keine große Abwehrkraft gegen den Faschismus entwickelt, ihn in manchen Strukturen und Parolen sogar vorwegnimmt. Dass sich der Parteien- und Verbändestaat der Zweiten Republik bisher großflächig für neue Stile, Ideen und Personen geöffnet hätte, kann man wirklich nicht sagen. Notwendige Liberalisierung wurde mit der Preisgabe ganzer Gesellschaftssegmente verwechselt. Aus der Perspektive der Peripherie muss der Staat wie eine unzugängliche, mit sich selbst beschäftigte Selbstversorgergemeinschaft erscheinen.

Unauffällig, über viele kleine Weggabelungen, teilt sich die Gesellschaft in Sprachmächtige und Sprachlose: Am Ende redet ein Teil über alles, und der andere möchte nichts mehr hören. Und im Grunde hat man sich schon lange wechselseitig aufgegeben.

Die vermeintlichen "Aufklärer" sind beleidigt. Jetzt haben sie so lange Artikel und Bücher geschrieben, Symposien veranstaltet, Fernsehserien gedreht, um das Schreckgespenst des Nationalismus und Faschismus zu bannen - und trotzdem ist es wieder da. Wie konnte es ihnen das antun? Ganz einfach: Es beherrscht diese Kulturtechniken nicht.

Diskurs oder Gefühle

Das politische "System" hat die radikale Linke, das Gespenst der 1970er Jahre, nicht zuletzt deswegen relativ leicht integrieren und damit unschädlich machen können, weil es sie in rhetorische Ghettos abdrängte, in Akademien, Universitäten, Jugendkulturen, Literaturen, es ideologisch separierte und damit verdampfen ließ.

Die Rechtsextremen sind nicht per Diskurs zu entschärfen, da Sprache und Denken in ihrem Wertekanon ein mechanisiert-formelhaftes Marginaldasein fristen. Hier spielen Gefühle, Gewalt und bestimmte Abgrenzungsriten die entscheidenden Rollen - und die sind nicht so leicht kanalisier- und damit kontrollierbar.

Einmal mehr sind Ängste, Aggressionen, Gewalt, Irrationalismus mehr oder weniger kampflos den Rechten überlassen worden, die diese Bereiche nicht schöngeistig ästhetisieren, sondern einfach mehr oder weniger brutal ausleben. Noch immer ist bei den Sprachmächtigen fast ausschließlich von Humanismus, historischer Vernunft, kommunikativer Rationalität und dergleichen mehr die Rede, im Schulunterricht ebenso wie in der öffentlichen Ansprache. Das unberechenbare Emotionale, Affektive, Mythische, Gewalttätige, täglich in all seinen Ausprägungen weltweit zu betrachten, wird - obwohl medial dauer-und überrepräsentiert - verdrängt und ausgeblendet und damit vielfach den Rechten überlassen, die aus all diesen Bereichen viel unbefangener ihre Lustpotentiale entwickeln.

Ausgerechnet die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Politik, eine vehemente Forderung der "68er" (Motto: "alles ist politisch") wird - wie so manch andere linke Forderung - heute von den Rechten eingelöst: sie zwingen alles unter ihr politisches Diktat: das Bierzelt, die Medien, den Sport, das Spektakel . . .

Aber das "Rechte" ist kein Projekt, das von langer Hand geplant und nun von rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa durchgeführt wird. Es war immer schon da, mal mehr, mal weniger deutlich. Es spricht einiges dafür, auch einen links-alternativen Anteil am Entstehungsprozess faschistisch-autoritärer Strukturen anzunehmen, wie etwa der deutsche Soziologe Wolfgang Pohrt und der Historiker Götz Aly schon mehrfach ausgeführt haben. Es geht um die Öffnung neuer Interpretations- und Argumentationsspielräume. Die alten sind eng geworden. Die ewiggleiche moralische Entrüstung, die sich den genauen analytischen Blick ersparen will, ist dem Phänomen des Rechtsradikalismus nicht mehr adäquat.

Es kann, beklagt man die Eintönigkeit der Faschismusdebatten, natürlich nicht darum gehen, fehlende ästhetische Kategorien, das Defizit schöner Wortspiele und hoher Gedanken einzuklagen. Nein, die Stereotypie und Klischeeanfälligkeit der Inhalte antifaschistischen Denkens und Handelns sind zu enthüllen. Und die Schwarzweißmalerei - hier tolerante Demokraten, da dubiose Desperados - ist aufzugeben.

Das Ende der "großen Erzählungen", der weltumspannenden Ideologien, hat die Zukunftshorizonte für alle schmäler gemacht. Sozialphilosophen wie Odo Marquard sehen die "Stunde der Erfahrung" in einer "Krise der Erwartung" kommen, eine Renaissance von Formen der Gegenwärtigkeit. Unschwer sind diese Theoreme in den Leitbildern des Zeitgeistes wiederzufinden: Der erkennende, lebenstüchtige Genießer verkörpert das Ideal geglückter Gegenwärtigkeit. Der Skinhead, der systematisch sein Vergnügen in der Prügelei sucht, sein Zerrbild. Seine Form der Gegenwärtigkeit ist monströs, aber längst nicht abgekoppelt von durchschnittlichem Fühlen und Empfinden. Der Skinhead und andere Gespenster sind Figuren einer sich verändernden Normalität. Was bevorsteht, stärker als bisher, ist eine Konkurrenz von Formen der Gegenwärtigkeit.

De-Eskalation

Vielleicht sollte man aufhören, das Neo-Faschismusproblem anders zu behandeln als andere gesellschaftliche Probleme. Wenn vom Alkohol- oder Drogenmissbrauch die Rede ist, glaubt eigentlich niemand, ihn durch eine einmalige pädagogische oder aufklärerische Anstrengung für immer aus der Welt schaffen zu können; es weiß aber jeder, dass die Gesellschaft weit davon entfernt ist, daran zugrunde zu gehen.

Eine solche Haltung bedeutet natürlich nicht, etwa auf die Benennung des Dritten Reiches als singulärem Massenmörder- und Verbrecherstaat zu verzichten. Sie hilft lediglich dabei, Antifaschismus operationabel zu machen. Die ultimative Rede, die absolute Tat gegen den Faschismus - in allen seinen neuen Erscheinungsformen - gibt es nicht.

"Ein neuer Humanismus muss entideologisieren und eine rigorose antihumanistische Diät verordnen. Er erwächst aus den Ruinen der humanistischen Illusionen. Man muss sich eingestehen, dass die Vernunftwesen nicht so nett sind. Der Journalist ist für die schlechten Nachrichten da, der Intellektuelle ein Unglücksprophet. Ihr Metier und ihr Können hat nichts mit Gut und Schön, sondern mit Genau und Wirklich zu tun." (André Glucksmann)

Dieser Text besteht aus Auszügen eines Artikels, der im Mai 1992 im "extra" unter gleichem (Haupt-)Titel erschienen ist. Da die beiden Autoren - schon damals und bis heute Redakteure bei der "Wiener Zeitung" - meinen, dass sich seit ihrer damaligen Diagnose nicht allzu viel an der Situation verändert hat, stellen wir diese Analyse neuerlich zur Diskussion.