Streben nach neuer Unabhängigkeit erfasst Latinos. | Viele Hindernisse auf dem Weg zu kontinentaler Einheit. | Wien. "Wir müssen das Übel an der Wurzel packen und die Regierung unseres Landes ändern!" Parolen irgendeines Oppositionspolitikers? Nein, Zeilen aus dem Lied "Gib mir die Macht" der mexikanischen Musikgruppe Molotov. Es sind Zeilen eines Hymne gewordenen Lieds gegen Korruption, Ausbeutung, Unterdrückung der Armen und "die Leute von oben, die dich hassen". Von Feuerland bis zur Baja California stimmten und stimmen Lateinamerikaner dieses Lied an und in ihnen erwacht ein neues Latino-Bewusstsein. Fort von Ohnmacht gegenüber ungleicher Verteilung von Reichtum hin zur Rebellion. Denn, so erklärt das Lied: "Wir waren eine Weltmacht und sind arm, weil sie uns schlecht führen."
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Lateinamerika driftet nach links ab
http://www.wienerzeitung.at/Images/2006/5/10/948_008_159986_100505grafi.png Die Konsequenzen des neuen Selbstbewusstseins waren in den letzten Jahren rasch gezogen. Eine Regierung nach der anderen wurde in Südamerika abgewählt. Dass manche der linken Kandidaten kaum politische Erfahrung hatten, stört dabei offenbar wenig. Die Linke ergriff auf dem Subkontinent die Macht. In Uruguay regiert sogar zum ersten Mal in der 180-jährigen Geschichte des Landes nicht die Rechte. In Peru wird bei der Stichwahl im Juni entweder der gemäßigt-linke Alan García Präsident oder der linke Nationalist Ollanta Humala. Auch in Mexiko, Nicaragua und Ecuador könnte es demnächst politisch nach links gehen. Es ist, als ginge es in Lateinamerika darum, ein zweites Mal unabhängig zu werden. Nach der Befreiung von den europäischen Kolonialmächten sind diesmal die Globalisierer, allen voran die USA an der Reihe. Dieser Trend schwächt konservative Kandidaten, denn, so denken viele, wer rechts ist, ist für die USA und somit für die Ausbeutung.
"Wir wurden nicht geboren, wo es nichts zu essen gibt." Ein weiterer Gedanke von Molotov, den so oder so ähnlich schon manch ein linker Politiker als Parole verwendet hat und die Massen bitterarmer Menschen in seinem lateinamerikanischen Land um sich geschart hat. In Bolivien schaffte es Evo Morales als Rächer der Entrechteten zum Staatspräsidenten.
Venezuela baut ein neues Machtnetz auf
In dieser Umbruchstimmung sieht sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez als Leitfigur Südamerikas. Polternd und ausfällig wie sein Vorbild Fidel Castro hat er sich den Kampf gegen die USA auf seine Fahne geschrieben. Gezielt setzt er dabei auf die Ängste vieler, die USA würden Lateinamerika als ihren Hinterhof betrachten. Die Hegemonialstellung seines erdölreichen Landes untermauert Chávez vor allem mit (kapitalistisch erworbenen) Petrodollars. Diese nutzt er, um sich als neuer starker Mann auf dem Kontinent zu präsentieren. Er kauft Argentinien Schuldverschreibungen ab, damit das Land von der Weltbank unabhängig wird. Er schließt ein Handelsbündnis mit Bolivien und Kuba. Er unterstützt mehr oder weniger offen linke Präsidentschaftskandidaten in Ecuador, Nicaragua und Mexiko. Und sogar in den USA verteilt er billigen Kraftstoff an die Armen. 25 Milliarden Dollar Auslandsinvestitionen hat Chávez bereits getätigt.
Differenzen zwischen Schattierungen von Rot
So spinnt Venezuelas Präsident beständig sein Machtnetz und zieht die anderen Länder Lateinamerikas nach und nach in seinen Bann. Denn schließlich träumt er davon, Südamerika unter seiner Führung zu einen. Einfaches Spiel hat Chávez nicht, denn links ist in Lateinamerika nicht gleich links. Ein Extrem sind Venezuela, Kuba und Bolivien, die mit Verstaatlichungen eine Abkehr vom freien Markt betreiben. Das andere sind Länder wie Chile, Brasilien oder Uruguay, die trotz Sozialreformen an einer marktwirtschaftlichen Politik festhalten. Nachdem Bolivien sein Erdgas verstaatlicht hatte, kam es erst vor kurzem zu einem Zwist mit Brasilien. Dessen Unternehmen Petrobras ist nämlich in Bolivien an Erdgas beteiligt. Die Petrobras kündigte eine Suspendierung ihrer Investitionen in Bolivien an und annullierte zugleich ein Projekt, das eine Steigerung des Imports bolivianischen Erdgases vorsah.
Sogar innerhalb des gemäßigten Wirtschaftsbündnisses Mercosur gibt es Differenzen. So droht Uruguay mit einem Austritt aus dem Staatenbund, sollte Freihandel mit den USA nicht erlaubt werden.
Lateinamerika ist also noch weit entfernt von Einheits-Träumen, wie sie Chávez vorschweben oder auch von der Idee der Südamerikanischen Staatengemeinschaft. Diese wurde 2004 gegründet und umfasst den Mercosur, die Andenstaaten, Chile, Surinam und Guyana (Siehe Seite 4). Ziel des Bündnisses ist es, bis zum Jahr 2025 unter den Mitgliedsstaaten ein gemeinsames Parlament und eine einheitliche Währung sowie Reisepässe zu haben.
Dazu müssten sich die neuen Staatenlenker aber erst einmal untereinander einig werden und nachhaltige Reformen in die Wege leiten. Denn bisher sind sie den Beweis, das sie den Problemen besser begegnen können noch schuldig.