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Vize-Chef geht nach Selbstmord-Serie bei France Télécom. | Mitarbeiter klagen über unmenschliches Betriebsklima. | Paris. Diesmal ertrug Jean-Paul Rouennais den Weg zur Arbeit nicht mehr. Auf einer Autobahnbrücke in der Nähe des südostfranzösischen Annecy hielt der 51-jährige Vater zweier Kinder vorige Woche an und sprang in die Tiefe. Im Auto hinterließ er seiner Frau einen Abschiedsbrief, in dem er das Betriebsklima bei France Télécom verantwortlich für seine Verzweiflungstat macht. Der 51-Jährige war erst vor wenigen Monaten auf seinen neuen Posten in einem Callcenter versetzt worden. Wohl fühlte er sich dort jedoch nicht. "Ich kann nicht mehr, das ist nichts für mich", soll Rouennais mehrmals geklagt haben. Damit dürfte der 51-Jährige nicht alleine gewesen sein.
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Zählt man Rouennais mit, haben sich seit Februar 2008 insgesamt 24 Mitarbeiter des französischen Telekommunikationskonzerns umgebracht. 24 persönliche Dramen, die aber alle im Kontext der Arbeitsbedingungen standen. Und nicht nur von Gewerkschaftsseite war der Vorwurf immer lauter geworden, France Télécom treibe seine Beschäftigten in den Tod. Doch reagiert wurde zunächst kaum.
Erst als Arbeitsminister Xavier Darcos vor zwei Wochen Konzernchef Didier Lombard aufforderte, gerade bei Versetzungen die "persönliche Lage der Angestellten" mehr zu berücksichtigen, kündigte dieser eine Reihe von Maßnahmen an: Zwangsversetzungen würden vorerst ausgesetzt, eine Notrufnummer eingerichtet und mehr Betriebsärzte eingestellt. Laut dem Radiosender Europe 1 gab es zudem die Anweisung, bei einem neuen Geschäftsgebäude zwecks "Suizid-Prävention" die Geländer zu erhöhen und die Terrassen sperren zu lassen.
Viele Beteiligte bei Streik
Doch der Druck auf die Führungsetage bei France Télécom scheint mittlerweile übermächtig geworden zu sein, zu Wochenbeginn kam es zu einer ersten personellen Konsequenz. Seinen Posten räumen muss allerdings nicht - wie von der Opposition gefordert - Generaldirektor Lombard, sondern sein Stellvertreter Louis-Pierre Wenes. Ihm folgt der vormalige Regierungsbeamte Stéphane Richard nach, der bereits seit Mai für die Lombard-Nachfolge im Jahr 2011 gehandelt wird.
Wenes, der seit 2002 an einer rasanten Modernisierung des Telekom-Riesen arbeitete, gilt vor allem in den Arbeitnehmervertretungen als Symbolfigur. "Er hat das Terror-Management eingeführt", sagte der Gewerkschafter Pierre Morville. Wenes, der den Spitznamen "Kosten-Killer" trägt, galt als Hauptverantwortlicher für einen strengen Sparkurs und einen allzu raschen Umbau des Unternehmens inklusive 22.000 Stellenstreichungen in den vergangenen Jahren.
Durch die permanenten Zwangsversetzungen fühlten sich viele Mitarbeiter des einstigen Staatsmonopolisten, von denen immer noch 65 Prozent Beamte sind, überfordert. Die Unternehmensführung ließ sich dadurch aber nicht von ihrem Kurs abbringen. "Wer glaubt, er kann weiter in aller Ruhe im selben Fahrwasser schippern, irrt sich", erklärte Lombard bei einer Versammlung im Jänner. In internen Ansprachen äußerte er sich mitunter auch flapsig über "unterbeschäftigte Mitarbeiter". Und auch auf die menschlichen Tragödien im Unternehmen reagierte die Führungsriege nicht besonders sensibel. So sprach Lombard von einer unerfreulichen "Selbstmord-Mode" - ein Versprecher, wie er später beteuerte.
Wenes wiederum sagte in einem Interview, nur einem geringen Teil der Angestellten gelinge es nicht, sich auf den Wandel der Unternehmenskultur einzustellen. Den Medien warf er "monströse Manipulation" der Suizide vor. "Man lässt die Toten sprechen", klagte Wenes.
Am Dienstag sprachen aber auch die Lebenden. An einem Streik, der unter dem Eindruck der Selbstmordserie ausgerufen worden war, beteiligten sich laut Gewerkschaft rund 30 Prozent der Mitarbeiter von France Télécom.