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Susann Sitzler

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

Die Schweizer Autorin Susann Sitzler spricht über ihr Buch "Bauchgefühle", über eine veränderte Wahrnehmung des Dickseins, über Veranlagung, Diäten und die beiden Sängerinnen Adele und Beth Ditto - und über Lust an der Maßlosigkeit.


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"Wiener Zeitung":Frau Sitzler, in Ihrem Buch "Bauchgefühle. Mein Körper und sein wahres Gewicht" schreiben Sie: "Der Mops in uns schlägt immer zurück." Klingt nicht gerade ermutigend.

Susann Sitzler: Ist es auch nicht.

Aber . . .

. . . es ist einfach die Wahrheit. Und die lautet: Die Chancen, ex-trem schlank zu sein, sind für jemanden, der nicht dazu veranlagt ist, nicht gerade ermutigend. Langfristig gesehen tendieren die Erfolgsaussichten sogar Richtung Null, das muss man einfach so klar sagen.

Das will doch keiner hören!

Das stimmt. Unsere Gesellschaft glaubt oder hätte zumindest gerne, dass es anders ist. Zudem gibt es eine riesige Industrie, die sehr viel Geld damit verdient, dass die Menschen glauben sollen, Diäten könnten eben doch funktionieren.

Wer oder was ist der Mops in uns?

Grundsätzlich gibt es zwei Veranlagungsformen: Menschen, die unter gegebenen Umständen, etwa Stress, zum Dickwerden neigen. Und Menschen, die unter starker Belastung zum Dünnwerden neigen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung zum Mops tendieren. Damit wir uns nicht missverstehen: Mops zu sein bedeutet nicht, 200 Kilogramm zu wiegen. Es heißt aber, dass Frauen mit dieser Veranlagung selten Kleidergröße 34 erreichen und halten können, wenn sie einigermaßen normal essen. Dafür müssen sie dauerhaft hungern.

Alle Diäten sind also unnütze Tortur?

Ich würde es anders formulieren: Eine Diät gibt ein Versprechen, das sie langfristig nicht halten kann, und zwar ein sehr großes. Dadurch gewinnt sie Macht. Denn das Kernversprechen lautet ja: super aussehen in tollen Klamotten und dadurch glücklicher sein.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Als einigermaßen dick.

Das klingt mutig. Immerhin gilt "dick" als schlecht. Was verbinden Sie mit dem Wort?

Heute verbinde ich damit etwas rein Beschreibendes, ähnlich wie dunkle Haare oder schiefe Zähne. Seit einiger Zeit ist diese an sich neutrale Eigenschaft aber extrem negativ aufgeladen. Damit rückt es in die Nähe eines Tabus, zu sagen: Ich bin aber nun mal dick - und trotzdem kein Freak. Und ansteckend ist es auch nicht.

Sind das Erfahrungen, die Sie selbst auch gemacht haben?

Nein, ich selbst nicht. Dafür ist meine Figur nicht extrem genug. Ich habe zwar auch schon mehr gewogen, aber ich war nie eine von diesen extrem dicken Menschen, die in diesem Zusammenhang gerne abgebildet werden. Außerdem konnte ich immer darüber sprechen. Doch jemand, der sehr weit in dieses Extrem geraten ist, ist oft so beschämt, dass er häufig nicht mehr souverän mit sich umgehen kann.

Was drückt ein dicker Körper aus?

In erster Linie: Ich bin dick veranlagt und ich habe genug zu essen. Natürlich gibt es auch Menschen, denen man ansieht, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten sind, dass sie sich in ihrem Dicksein verloren haben. Möglicherweise auch in anderen Dingen, aber sichtbar ist das Dicksein. Zugleich kennen wir auch alle das Bild etwa einer ausladenden, temperamentvollen Frau mit wallenden Gewändern und buntem Schmuck, die als expressiver Typ einfach mehr Raum in Anspruch nimmt.

Diese Beschreibung trifft in mancher Hinsicht auf Beth Ditto zu, die Frontfrau der erfolgreichen US-Band Gossip. Neben ihrer Körperfülle ist sie auch lesbisch. Spielt das für ihren Erfolg eine Rolle?

Damit begebe ich mich jetzt natürlich weit in einen politisch inkorrekten Bereich hinein, doch ich würde sagen: Für das Mainstream-Publikum macht es das unter Umständen leichter, Beth Ditto so zu akzeptieren, wie sie ist. Denn unser auf erotische Verwertbarkeit ausgerichteter, männlich geprägter Blick und die Frage, ob diese Frau sexy ist oder nicht, entfallen in diesem Beispiel. Interessant daran ist allerdings auch, dass der Körper, wenn er nicht mehr unter diesem erotischen Gesichtspunkt betrachtet wird, plötzlich nicht mehr wichtig ist. Dann heißt es: Es ist egal, wie die aussieht, weil sie eine tolle Stimme hat.

Und welche Rolle spielen die Kilos bei Adele, der britischen Popsängerin?

Sie ist nicht ganz so dick wie Beth Ditto, aber auch ganz eindeutig kein schlankes Reh.

Definitiv nicht!

Ihre Musik ist ebenfalls sehr ausdrucksstark, zweifellos aber auch mainstreamiger als die von Gossip. Sehr interessant ist, dass bei Adele - wenn überhaupt - das Gewicht positiv thematisiert wird. Bei ihr spricht man vom starken Charakter und von der starken Stimme. Und ich bin mir ganz sicher, dass Adele diesen normaleren Umgang mit ihrem Gewicht zum Teil Beth Ditto zu verdanken hat. Ditto hat in der Gegenbewegung zum Schlankheitswahn, die es inzwischen gibt, eine wichtige Rolle gespielt. Sie hat gewissermaßen eine Speerspitze abgefangen.

Was ist das für eine Bewegung?

Seit ein paar Jahren gibt es in den USA eine starke Emanzipationsbewegung, die meistens als "Fat acceptance movement", zu Deutsch "Bewegung zur Akzeptanz von Dicken", bezeichnet wird. Politisch ist diese Bewegung vergleichbar mit den frühen Wellen der Schwulen-Bewegung, die auf ganz ähnliche Weise versucht hat, überhaupt erst ein Bewusstsein für Diskriminierung zu schaffen. Ziel ist aber natürlich auch, zu überlegen, wie Betroffene einen Platz in der Gesellschaft bekommen können.

Wie ist die Situation in den deutschsprachigen Ländern?

In Deutschland ist die Bewegung relativ neu und hat noch nicht diesen Stellenwert. Es gibt einzelne Gruppierungen, wie etwa "Dicke e.V.", das Internetforum "Deutschlands dicke Seiten" oder die "Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung". In Österreich gibt es die feministische Initiative "ARGE Dicke Weiber". Dass diese Bewegung hierzulande noch so in den Anfängen steckt, liegt sicher auch am nach wie vor herrschenden mitteleuropäischen Konsens: Dick gilt als gefährlich, weil es angeblich krank macht, und die Allgemeinheit Geld kostet.

Ab einem bestimmten Body-Mass-Index ist das sicher auch zutreffend. Sie beschreiben in Ihrem Buch etwas sehr Interessantes, nämlich das richtige Dicksein. Was verstehen Sie darunter?

Das Schwerste daran ist, dass jeder Mensch, der mit dieser Veranlagung zu tun hat, das für sich selbst klären muss. Das bedeutet auch, dass ich nicht einfach anhand eines bestimmten Body-Mass-Index sagen kann: Ich müsste nun das Gewicht x haben. Zunächst muss man den relativ beschwerlichen Weg gehen und Fragen für sich selbst beantworten, wie: Warum will ich schlank sein? Was bedeutet das für mich?

Klingt auch nicht einfacher als eine mühevolle Diät.

Nein, einfach ist es nicht. Denn Sie müssen lernen, ehrlich zu sich selbst zu sein und die eigenen Kriterien in Frage zu stellen. Denkbar ist dabei jedenfalls die Erkenntnis: Ich möchte nicht unbedingt 160 Kilo wiegen, andererseits ist aber auch Kleidergröße 34 nicht zwingend. Gewicht und Essverhalten sollten in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen, so dass ich mich nicht ständig quälen und über das Essen nachdenken muss. Wenn ich also mittags ein Brötchen esse, möchte ich nicht einen halben Tag darüber nachdenken, wie ich das wieder abtrainiere.

Haben Sie selbst lange so gelebt?

Ich habe lange Diäten gemacht, die erste mit elf Jahren. Es gab auch Zeiten, in denen ich viel Gewicht verloren habe und dann wieder zugenommen habe. Vor allem gab es die sogenannten Kon-trollphasen, in denen meine Gedanken nur noch um Kalorien kreisten und ich weit entfernt von jeglichem natürlichen Essverhalten war.

In dem Lied "Verschwinde" der Sängerin Annett Louisan gibt es die Zeile: "Hab mich zwölf Mal am Tag gewogen." Solche zwanghaften Verhaltensweisen haben Sie jetzt nicht mehr nötig?

Ich habe keine Waage, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Meine Obsession war auch weniger das Wiegen als das Tasten. Ich habe also gefühlt, ob die Ringe an den Fingern schon rutschen und ob zum Beispiel der Bauch flacher geworden ist und die Beckenknochen zu spüren sind.

Was hat sich für Sie dadurch geändert, dass Sie ehrlicher zu sich selbst geworden sind?

Ich weiß tatsächlich nicht, wie viel ich wiege. Ich kenne aber meine Kleidergröße - und das richtige Dicksein ist für mich genau so, wie es jetzt ist. Diese zwanghaften Gedanken rund um das Thema Essen sind weitgehend verschwunden. Es hat sich also sogar sehr viel geändert.

Welche Kleidergröße haben Sie denn?

44.

Und Sie fühlen sich damit wohl?

(lacht) Ja! Aber Sie klingen sehr zweifelnd.

(lacht) Zugegeben, ja. Aber ich bin auch überrascht: Denn wenige Menschen - vor allem Frauen - sind mit ihrem Gewicht zufrieden, insbesondere nicht mit Konfektionsgröße 44. Wo liegt für Sie die Grenze zwischen dick und zu dick?

Ich hatte auch schon Größe 48; 44 ist also wirklich ein Erfolg für mich. Mit zwei Kleidergrößen mehr fühlte ich mich nicht mehr wohl und hatte ein sehr schlechtes Körpergefühl. Es fühlte sich nicht mehr stimmig an und ich war für meine eigenen Begriffe zu dick. Mit 44 befinde ich mich in meinem persönlichen Gleichgewicht, weil ich regelmäßig und entspannt esse, zwischen den Mahlzeiten selten ans Essen denke und vor allem nichts unkon-trolliert in mich hineinstopfen muss. Diese Grenzen verlaufen aber sehr individuell, bei Frauen wie auch bei Männern.

Was empfehlen Sie Menschen, die mit Ihrem Gewicht kämpfen?

Als Ratgeberin sehe ich mich eigentlich nicht. Mein Anliegen ist, dass die Menschen über sich und die Bedeutung, die sie ihrem Gewicht geben, überhaupt nachdenken. Wenn man dick veranlagt ist und darunter leidet, hilft es, wenn man sich das zunächst einzugestehen erlaubt: Ja, ich bin dick. Das ist in diesem Moment die Realität meines Körpers. Wenn man nur schlank ist, weil man sich ständig kontrolliert, könnte man sich auch folgendes Gedankenspiel erlauben: Angenommen, ich wäre ein bisschen dicker - was wäre dann? Welche Gefühle kommen da hoch? Das ist oftmals ganz erstaunlich.

Welche sind das zum Beispiel?

Ängste davor, abgelehnt zu werden. Oder Erinnerungen an Mütter und Väter, die einen als Kind wegen des Gewichts abgewertet haben. Früher gab es zum Beispiel sehr viele Mütter, die es als persönliches Versagen empfunden haben, wenn ihr Kind auch nur ein bisschen mollig war. Denn die anderen könnten es ja als mangelnde Fürsorge auslegen.

Das wird den Eltern auch heute als Versagen, als Scheitern angelastet.

Der Begriff "Scheitern" gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht, ich halte ihn sogar für einen gefährlichen Motor in einer populären Ideologie. Mit dieser Angst vor dem Dickwerden verdient die Fitness- und Diätindustrie irrsinnig viel Geld. Laut einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung gibt ein Mensch pro Kilo, das er loswerden will, 320 Euro aus.

Mit dem mahnenden Zeigefinger wird gerne auch auf die US-Amerikaner verwiesen . . .

. . . in der Furcht, dass es bei uns genauso extrem werden könnte. Diese sehr korpulenten Amerikaner gibt es natürlich zweifellos, allerdings in den USA aus anderen Gründen als bei uns.

Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Restaurantszene, in der Sie ein unglaublich dickes Paar beobachten. Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?

Ich fand es unappetitlich. Der Tisch bog sich unter Nahrungsmitteln, und zwar ausnahmslos mit Dingen, die heutzutage als böse gelten: Berge von frittierten Calamari, Coca-Cola, fette Saucen. Die beiden setzten sich öffentlich über die ganzen modernen Ernährungsregeln hinweg und schienen dabei auch noch Lust zu empfinden.

Was war das Unangenehme an dieser Erfahrung?

Das lag weder an dem Aussehen der beiden noch an den Essensbergen. Doch diese Szene eines Paares, das in einem sehr großen Tempo enorme Massen in sich hineinschaufelte, hatte etwas sehr Intimes. Letztlich war es eine Grenzüberschreitung, die in einem vollen Restaurant geschah. Wenn dieses Paar sich lautstark gestritten hätte oder sich sehr leidenschaftlich geküsst hätte, wäre die Wirkung ähnlich gewesen. Es war eine Privatorgie, die mir als zufällige Beobachterin keine Distanzierung erlaubte.

Gehört die Maßlosigkeit ins Private?

Vielleicht. In unserer Gesellschaft ist es das sicher geworden. Gelage und Völlerei gab es allerdings schon immer. So wie es auch schon seit jeher und in jeder Kultur den Wunsch nach Exzess gab. Die allermeisten Gesellschaften haben dafür ritualisierte Formen. Wir haben Feiern wie Weihnachten oder auch den Fasching, wo man über die Stränge schlagen darf, um sich danach auch wieder zu mäßigen.

Maßlosigkeit als Quelle des Glückseins, ist das ein Teil von Ihnen?

Für mich persönlich kann ich das klar bejahen. Ich möchte sicher nicht pausenlos im Exzess leben. Aber Maßlosigkeit hat für mich eine Qualität, die mir schon manch schöne Stunde beschert hat. In diesem Katalog spielt Essen auch keineswegs die größte Rolle. Ich kann für mich aber klar feststellen: Das Ja zur gelegentlichen Maßlosigkeit ist für mein Leben ein Gewinn.

Kate Moss soll gesagt haben: Nichts schmeckt so gut wie dünn sein.

Das mag für sie stimmen. Dem könnte man natürlich entgegenhalten: Nichts schmeckt so gut wie drei Teller Pasta und anschließend noch ein Stück Sahnetorte. Da sind die Geschmäcker sehr verschieden, auch in Bezug auf den Exzess.

Was hat sich für Sie durch das Buch verändert?

Sehr viel. Dadurch, dass ich sehr persönlich über meinen Körper geschrieben habe, setze ich mich natürlich noch mehr den Blicken aus. Damit riskiere ich auch Reaktionen von Menschen, die möglicherweise sagen: Schau’ die doch mal an, das meint die nicht wirklich.

Stimmt. Man könnte Ihnen unterstellen, dass Sie noch nicht die richtige Diät gefunden haben.

Selbstverständlich, doch genau darum geht es. Ich sehe mein Buch nicht als Rezept und fordere auch nicht, dass alle dick sein müssen. Mir aber hat es viel Freiheit gebracht, und ich sehe in einer veränderten Wahrnehmung des Dickseins auch gesellschaftlich einen wichtigen Emanzipationsschritt. Für mich persönlich bedeutet er: Ich muss nicht mehr 40 Prozent meiner Lebensenergie darauf verschwenden, nach der richtigen Diät zu suchen, sondern kann sie für etwas Sinnvolleres nutzen.

Zur Person

Susann Sitzler, geboren 1970 in Basel, studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Basel. Seit vielen Jahren lebt sie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin, Buch- und Radioautorin.

Ihr Buch "Bauchgefühle. Mein Körper und sein wahres Gewicht" ist 2011 im C.H. Beck Verlag erschienen. "Bauchgefühle" problematisiert das Dicksein nicht, sondern betrachtet es als Phänomen und fragt nach der Bedeutung eines ausladenden Körpers. Vor allem aber geht es auch um die Frage: "Kann man auf die richtige Weise dick sein?"

Von Susann Sitzler sind außerdem folgende Bücher erschienen: "Grüezi und Willkommen. Die Schweiz für Deutsche", Ch. Links Verlag; "Überleben in Zürich. 365 Dinge, die man über diese Stadt wissen sollte", Ch. Links Verlag; "Aus dem Chuchichäschtli geplaudert. Das ultimative Sprachlexikon für die Schweiz", Pendo Verlag.