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Susanne Scholl

Von Martin Hablesreiter und Sonja Stummerer

Reflexionen
"Sie glauben gar nicht, wie oft ich mit meinen russischen Freundinnen über die Situation der Frauen gestritten habe!" - Susanne Scholl im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiter Martin Hablesreiter. Foto: Stummerer

Die Slawistin und Autorin Susanne Scholl, viele Jahre ORF-Korrespondentin in Moskau, über ihre Erfahrungen in Russland, das dortige "Machotum", die Unreformierbarkeit der derzeitigen Eliten - und über das neue österreichische Fremdenrecht.


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Wiener Zeitung: Frau Scholl, Sie haben viele Jahre lang für den ORF aus Russland berichtet. Wie sind Sie zu diesem Job gekommen? Susanne Scholl: Ich stamme aus einer kommunistischen Familie und war bereits 1965 zum ersten Mal in Moskau. Insofern ist es kein Zufall, dass ich später Slawistik studierte. Als ich dann beim ORF begann, meldete ich gleich Interesse an einer Stelle in Moskau an. Zunächst wurde ich aber als Deutschlandkorrespondentin nach Bonn geschickt. Das war genau vor dem Mauerfall. Im Journalismus spielt Glück eine große Rolle. Wenn man zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort ist, erleichtert das natürlich die Karriere. Dann wurde der Posten in Moskau frei - ein paar Monate vor dem Putsch. Mein Erfolg als Journalistin wurde sicher durch die beiden glücklichen Umstände mitbestimmt, dass ich 1989 in Deutschland war und beim Zerfall der Sowjetunion in Moskau.

Sie haben die Entwicklung Russlands vom Ende der UdSSR bis 2009 hautnah mitverfolgt. Wie schwierig war die Arbeit als Journalistin in einem autoritär regierten Land?

Das Problem war nicht die eigentliche Berichterstattung, denn unser Moskauer Büro funktioniert gut und ich verfüge in Russland über viele persönliche Kontakte. Das Schwierige war der emotionale Teil. Während des Putsches 1991, als einige Sowjetfunktionäre Gorbatschow entmachteten und die Teilrepubliken nach und nach ihre Unabhängigkeit erklärten, war eine meiner besten Freundinnen bei uns im Büro. Ihr Mann und ihre Tochter demonstrierten vor dem "Weißen Haus", dem damaligen Parlament. Dort wurde aber geschossen! Keiner von uns wusste, ob sie heil von dort herauskommen würden. Beim zweiten Putsch 1993, als Jelzin den Obersten Sowjet auflöste und in Moskau die blutigsten Straßenkämpfe seit der Oktoberrevolution stattfanden, hatte ich persönlich große Angst. Schließlich war ich gemeinsam mit meinen Kindern in Moskau! Wenn man selbst extrem emotionalisiert ist, macht das die objektive Berichterstattung natürlich nicht unbedingt leichter.

Ihre persönlichen Erfahrungen in Moskau waren also zwiespältig?

Vieles war zum Mitleiden. Als besonders belastend empfand ich die Gewalt in Tschetschenien und die Geiselnahme in der Schule von Beslan, bei deren Erstürmung über 300 Menschen ums Leben kamen. Auch das Begräbnis von Anna Politkowskaja habe ich in schrecklicher Erinnerung. Aber es gab auch Momente großer Freude.

Zum Beispiel?

Einer der bewegendsten Augenblicke war sicherlich das Scheitern des Augustputsches von 1991. Als konservative Kräfte innerhalb der KPdSU drei Tage lang versuchten, Gorbatschow zu stürzen, war die Lage in Moskau zunächst extrem angespannt. Und dann plötzlich kam dieser unglaublich befreiende Moment, als klar wurde, dass sich das Militär auf die Seite der Reformer stellte und in die Demonstrationen gegen die Putschisten nicht eingriff. Die ganze Stadt war euphorisch, jeder schien auf der Straße zu sein, um zu feiern. Diesen Eindruck der puren Freude werde ich nie vergessen!

Wie schwierig war es, in dieser Phase des Umbruchs an Informationen zu kommen? Wurden Sie bei Ihrer Arbeit jemals behindert?

Anfangs überhaupt nicht, im Gegenteil: Vom Zerfall der Sowjetunion bis zum Tschetschenienkonflikt herrschte sogar eine Art Euphorie hinsichtlich Pressefreiheit. Damals konnte man jederzeit in den Kreml gehen und dort so viele Interviews machen, wie man wollte. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich in irgendwelchen Kremlbüros gesessen bin und Jelzin-Berater interviewt habe. Nach dem zweiten Putschversuch und besonders ab dem Tschetschenien-Krieg 1994 wurde es dann aber immer schwieriger, Auskünfte zu bekommen. Von da an waren meine Informationsquellen vor allem Freunde, die in einschlägigen Jobs arbeiteten. Ohne ein relativ enges Netzwerk von Leuten, mit denen man Nachrichten austauschen kann, ist in Ländern wie Russland heute objektive Berichterstattung nicht möglich.

Susanne Scholl. Foto: Stummerer

Wurden Sie jemals persönlich bedroht?

Nie direkt. Manchmal wurde ich allerdings beschimpft. Speziell die russische Botschaft in Wien war mit dem, was ich sagte, nicht immer einverstanden. Im Zuge der Geiselnahme in Beslan zum Beispiel meinte der russische Gesandte in Wien, ich hätte mich auf die Seite der Terroristen gestellt.

Glauben Sie, dass sich Russland in eine andere Richtung entwickelt hätte, wenn Michail Gorbatschow 1991 an der Macht geblieben wäre?

Nein, im Gegenteil. Gorbatschow hätte versucht, das sowjetische System aufrecht zu erhalten - mit ein paar kleinen Freiheiten. Er verstand nicht, dass die Sowjetunion an sich nicht reformierbar war. Boris Jelzin hatte diesen Weitblick und ist 1990 sogar aus der kommunistischen Partei ausgetreten. Ich verstehe wirklich nicht, warum im Westen gerade Gorbatschow so hofiert wird.

Sie meinen, Gorbatschow hätte den Friedensnobelpreis gar nicht verdient?

Doch - durchaus! Ohne ihn hätte sich in den neunziger Jahren überhaupt nichts verändert. Er hat Bewegung in die Sache gebracht. Für nicht gerechtfertigt halte ich aber das Jelzin-Bashing. Als ob Gorbatschow der Engel und Jelzin der böse Bube gewesen wäre. Es war doch genau umgekehrt! Der Augustputsch 1991 hat ja ganz deutlich die Gefahren gezeigt, die von den alten kommunistischen Strukturen ausgingen. Dennoch hätte Gorbatschow niemals die KPdSU aufgelöst, geschweige denn verboten. Boris Jelzin dagegen tat beides, und nur so konnte er Russland wirklich reformieren.

Aber Jelzin hat letztlich einen KGB-Mann als Nachfolger im Präsidentenamt zugelassen.

Den hätte auch Gorbatschow zugelassen. Der ist mit Putin ebenfalls sehr pfleglich umgegangen. Putin hat seinen Erfolg weniger Jelzin selbst, als vielmehr dessen Familie zu verdanken. Man glaubte, einen kleinen, leicht kontrollierbaren KGB-Mann für die oberste Position im Staat gefunden zu haben. Der Mann wurde schlichtweg unterschätzt. Kein Mensch erkannte damals Putins Machtgier, niemand hätte seinen Kontrollwahnsinn für möglich gehalten.

Haben Sie Vladimir Putin jemals persönlich getroffen?

Ich habe ihn zweimal bei Pressekonferenzen erlebt und ihn dabei jedes Mal zur Weißglut getrieben. Putin hasst es, wenn sich Journalisten nicht mit seinen vorbereiteten Phrasen zufrieden geben und genauer nachfragen. Beim zweiten Mal hat er wegen meiner Fragerei sogar die Pressekonferenz abgebrochen und den Raum verlassen.

Putin lässt sich manchmal mit nacktem Oberkörper fotografieren. Regiert in Russland das "Machotum"?

Was das betrifft, befindet sich Russland noch im Mittelalter. Ich kenne in Russland nur eine einzige Familie, in welcher der Mann im Haushalt zumindest mithilft. Die sowjetische Interpretation von Gleichberechtigung verlangte, dass Frauen schwere körperliche Arbeit auf Baustellen oder in Fabriken leisten und nebenbei auch noch den Haushalt führen sollten. Die heutigen Frauen sind der Meinung, dass sie lieber nicht gleichberechtigt sind, wenn sie dafür nicht im Bergwerk schuften müssen. Sie wünschen sich lieber einen Mann, der Geld nach Hause bringt, nicht trinkt, nicht schlägt und die Kinder gut behandelt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich mit meinen russischen Freundinnen über die Situation der Frauen gestritten habe.

Die formelle Gleichstellung der Frau im Kommunismus schlägt also jetzt ins andere Extrem um?

Ja, allerdings habe ich den Eindruck, dass sich auch in Westeuropa die Machogesellschaften wieder stärker ausbilden. Und das Wort "Feministin" scheint wieder zum Schimpfwort zu werden.

Woran liegt das?

Einerseits hat das vermutlich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun. Der Fall des Kommunismus war leider auch eine Bankrotterklärung des Rufs nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Andererseits leben wir ja auch im Westen andauernd in irgendwelchen angeblichen Krisensituationen. In sogenannten schlechten Zeiten werden Umweltschutz oder Frauenrechte sofort in den Hintergrund gedrängt. Das ist fatal. Dazu kommt, dass die heutige Generation von Frauen erleben musste, dass ihren Müttern der Feminismus kaum etwas gebracht hat - leider.

Putin ist also im Westen nicht nur wegen seiner Machtfülle, sondern auch auf Grund seiner inszenierten Männlichkeit salonfähig?

Ja. Ich glaube schon, dass unseren Männern das Machobild à la Putin ganz gut gefällt. Die engsten Freunde Putins sind bekanntlich die Herren Berlusconi, Blair und Schröder. Gerhard Schröder tourt doch tatsächlich durch die Welt und erzählt, Putin sei ein lupenreiner Demokrat. Die europäischen Spitzenpolitiker finden die Vorstellung sehr verlockend, sich nicht dauernd mit lästigen Kritikern, dem Volk oder der Presse herumschlagen zu müssen.

Sie meinen, Putin gilt in manchen politischen Kreisen als Vorbild?

Je schwächer die Leute selber sind, umso mehr imponiert ihnen so ein Gehabe. Putin ist ja in Wirklichkeit kein starker Mann, sondern ein kleinkarierter KGB-Agent, der die Rolle des Präsidenten von Russland spielt.

Ist Russland denn immer noch eine Weltmacht?

Russland ist ein großes Land mit viel Potential und leider auch mit Atomwaffen. Vielleicht hegt die politische Elite immer noch Weltmachtgedanken. Jedenfalls agiert sie so, als ob der Kalte Krieg noch nicht vorbei wäre. Das zeigt sich unter anderem daran, dass man sich mit den USA ausmacht, was auf der Welt passieren darf und was nicht. Aber in Wirklichkeit gibt es keine Großmächte mehr.

Wohin wird sich Russland Ihrer Meinung nach entwickeln?

Gar nicht, Russland tritt auf der Stelle. Die politische Elite hält nichts von gesellschaftlicher oder demokratischer Entwicklung, und ich fürchte, das wird noch eine Weile so bleiben. Irgendwann aber wird eine neue, unzufriedene Generation antreten - und dann wird sich etwas Ähnliches abspielen, wie jetzt in den arabischen Ländern.

Glauben Sie, dass Russland eines Tages EU-Mitglied wird?

Nein. Russland ist größer als die ganze EU. Was soll dieses Riesenland in der EU? Und angesichts der Situation in Polen, Rumänien oder Ungarn bin ich mir nicht sicher, ob die Erweiterung der EU übrhaupt eine gute Idee ist.

Inwiefern ?

Wir haben in Ungarn eine zum Faschismus tendierende Regierung. Und wir hatten in Polen eine Regierung, die unglaublich reaktionäre, teils sogar faschistische Ideen durchzusetzen versuchte. Bulgarien und Rumänien sind Weltmarktführer in Sachen Korruption. Und dort werden auch die Menschenrechte verletzt. Ich glaube nicht, dass solche Länder in der EU sein sollten.

Aber profitieren die großen europäischen Unternehmen nicht von diesen korrupten Systemen?

Ja, natürlich profitieren sie davon! Genauso wie sie von Mubarak, Ben Ali und Gaddafi profitiert haben.

Ist es nicht frustrierend, wenn man über die osteuropäische Korruption berichtet - und in derselben ZIB-Sendung österreichische Mineralölunternehmen oder Großbanken gefeiert werden, die sich in großem Stil in diesen Ländern einkaufen?

Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Bei einer Podiumsdiskussion saß ich neben einem der Chefs der Raiffeisenbank. Er wollte den anwesenden Geschäftsleuten Investments in Russland schmackhaft machen. Ich verwies auf die dortige Missachtung der Menschenrechte, die unterdrückte Pressefreiheit, die mangelnde demokratische Entwicklung und so weiter. Damit ging ich ihm so auf die Nerven, dass er vor laufenden Kameras sagte: "Also wirtschaftlich ist dort alles in Ordnung, und über die Demokratie reden wir nachher bei einem Glaserl Wein". Natürlich ist das extrem frustrierend.

Aber sind die Zustände bei uns tatsächlich so viel besser als in Russland oder Rumänien?

Natürlich, sehr viel besser! Der Vergleich zwischen Russland und Österreich in punkto Demokratie und Korruption ist wirklich nicht zulässig! Ich hasse es, wenn Leute Russlands Oligarchen mit Grasser vergleichen. Das kann man nicht vergleichen! In Russland gehen Leute drauf - bei uns geht ein bisserl Geld verloren. Das ist eine ganz andere Dimension.

In Österreich wenden Sie sich öffentlich gegen Fremdenfeindlichkeit. Worauf führen Sie den Rassismus hierzulande zurück?

Unsere Kultur ist sehr rückwärtsgewandt. Wir bauen unsere Identität auf Traditionen auf. Da sind neue Einflüsse schwer zu akzeptieren. Aber es hat auch mit Verlustängsten zu tun. Man hat Angst davor, Territorium aufzugeben.

Glauben Sie wirklich, dass die Mittelschicht so viel Angst hat, etwas zu verlieren?

Ich spreche nicht von den Verlust-ängsten der breiten Masse. Politiker und andere Eliten fürchten sich davor, ihre Macht, ihren Einfluss oder Teile ihres Besitzes zu verlieren. Darum reden sie ihre eigenen Ängste den normalen Leuten ein. Die Österreicher sind gar nicht so fremdenfeindlich, aber die Politik hat beschlossen, dass wir es zu sein haben. Jetzt gibt es ein neues Fremdenrecht, das noch schlimmer ist als alles zuvor. Ich habe einen Protestbrief verfasst und privat herumgeschickt. Innerhalb von wenigen Tagen hatte ich dreihundert Unterschriften gegen das neue Gesetz gesammelt. In Wahrheit ist die Mittelschicht, die ja angeblich so rassistisch ist, total empört. Jeder hat irgendwo eine Flüchtlingsfamilie in seiner Umgebung, die er behalten will. Es gibt so viele Privatinitiativen, die sich gegen die Abschiebung einzelner Familien wehren.

Wie können europäische Politiker über die christliche Leitkultur diskutieren und Menschen vor der Küste Italiens ertrinken lassen?

Das frage ich ständig Politiker in Briefen und E-Mails.

Haben Sie jemals eine Antwort bekommen?

Oft schon! Wunderschöne Schimmelbriefe, die jeder Beschreibung spotten: "Wir tun alles für die Menschen, aber Recht muss Recht bleiben." Politiker machen doch das Recht!

Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit bewirken?

Natürlich habe ich den Drang, Menschen zum Nachdenken zu bringen. Aber ich glaube nicht wirklich, dass es mir, dass es uns gelingt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich auch das Telefonbuch vorlesen könnte, und keiner würde es merken. Die meisten Leute achten auf meine Ohrringe und meinen Schal. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin.

Aber Sie schreiben und arbeiten doch noch . . .

Das hat vor allem mit persönlicher Psychohygiene zu tun. Ich kann doch nicht einfach nur dasitzen und zuschauen! Das halte ich nicht aus. Ich kann doch nicht zuschauen, wenn die Politik Menschen zu Sozialschmarotzern und Verbrechern degradiert, nur weil die auf der Flucht sind. Das schaffe ich emotional nicht.

Zur PersonSusanne Scholl, 1949 in Wien geboren, studierte Slawistik in Rom und wurde 1974 Assistentin des Wien-Korrespondenten der französischen Tageszeitung "Le Monde". Ab 1975 war sie als Redakteurin tätig, unter anderem für Radio Österreich International und die Austria Presse Agentur, ehe sie 1985 in die Osteuropa-Redaktion des ORF wechselte. 1989 trat sie ihre erste Stelle als ORF-Korrespondentin in Bonn an. 1991 wechselte sie nach Moskau, wo sie von 1994 bis 1997 und von 2000 bis 2009 das ORF-Büro leitete. Derzeit lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Wien.

Susanne Scholl schrieb mehrere Romane und Erzählungen. Ihr jüngstes, im Ecowin Verlag erschienenes Buch, "Allein zu Hause", ist eine literarische Auseinandersetzung mit Österreichs Asylmisere.

Susanne Scholl war Österreichs "Frau des Jahres" 1994, Journalistin des Jahres 2009 und wurde mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (2003), dem Concordia-Preis (2007) und dem Axel-Corti-Preis (2007) ausgezeichnet.

Sonja Stummerer, geboren 1973, und Martin Hablesreiter, geboren 1974, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien.