Österreich erleichtert den Zugang zur Doppelstaatsbürgerschaft für NS-Vertriebene und ihre Nachkommen.
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Begonnen hat der Weg zur österreichischen Staatsbürgerschaft für die österreichisch-amerikanische Freestyle-Skiläuferin Avital Carroll mit einem Antrag mit folgendem Wortlaut: "Unter Bezugnahme auf das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (§ 58c Abs. 1a StbG) zeige ich hiermit an, dass ich Nachkomme ... bin, der sich als österreichischer Staatsbürger ... vor dem 15. Mai 1955 in das Ausland begeben hat, weil er Verfolgungen durch Organe der NSDAP oder der Behörden des Dritten Reiches mit Grund zu befürchten hatte/erlitten hatte...".
Nachdem Carroll über Umwege von der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes erfahren hatte, beschloss sie, sich zu bewerben.
Sie will mehr über ihre Herkunft erfahren, gemeinsam mit einem Anwalt gelingt es ihr, verschollene Informationen über ihre Großmutter Elfi Hendell, eine ist gebürtige Wienerin, zu finden. Denn Carrolls Großmutter Elfi Hendell musste als Siebenjährige wegen ihres jüdischen Hintergrunds aus Österreich fliehen, zunächst nach Italien, 1944 dann mit einer befreundeten Familie auf der "U.S.S. Henry Gibbins" nach New York.
Die Zahl der Vergaben hat sich seit 2019 verdoppelt
Im August 2021 wird Carrolls Antrag stattgegeben, seither ist sie Doppelstaatsbürgerin. Ihr nächstes Ziel: Avital Carroll will im österreichischen Skisport Fuß fassen, am 3. Dezember 2022 geht sie erstmals für Österreich an den Start. Vom neuen Staatsbürgerschaftsgesetz ist Carroll begeistert: "Es ist ein großartiges Gesetz, super sinnvoll für mich und meine Familie und die jüdische Gemeinschaft auf der ganzen Welt." Eine Ironie der Geschichte: Carrolls Begeisterung für den Skisport hat ihre Großmutter Elfi Hendell geweckt - und Enkelin Avital Carroll geht nun für ein Land auf Medaillenjagd, aus dem ihre Großmutter einst vertrieben wurde.
Seit dem Jahr 2019 hat sich die Zahl der Vergaben österreichischer Staatsbürgerschaften laut Zahlen der Statistik Austria verdoppelt. 20.606 Personen haben im Jahr 2022 die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Fast die Hälfte davon sind ehemalige NS-Vertriebene und deren Nachkommen.
Ein unbürokratisches Staatsbürgerschaftsverfahren
Wer heute in Österreich solch einen Antrag als Nachfahre eines NS-Vertriebenen stellen möchte, der stößt auf ein wenig bürokratisches Verfahren. Anspruch darauf haben Personen, die vor ihrer Flucht die österreichische Staatsbürgerschaft sowie eine Staatsbürgerschaft der Nachfolgestaaten der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie hatten und Staatenlose. Lediglich ein Fragebogen ist auszufüllen in dem Angaben zur Person, den Vorfahren und zu den Gründen der Verfolgung gemacht werden müssen. Danach durchsuchen die österreichischen Ämter die Karteien der Archive aus der NS-Zeit. Seit Inkrafttreten der Novelle mit 1. September 2020 sind an den österreichischen Vertretungsbehörden weltweit knapp 25.000 Anfragen eingegangen. Rund 21.500 konnten positiv abgeschlossen werden. Der Großteil der Antragsteller kommt aus Israel, den USA, Großbritannien und Irland.
Das Trauma der NS-Opfer wurde lange Zeit ignoriert
Lange Zeit war es für die Nachfahren der Überlebenden der Schoah alles andere als einfach, zumindest diese Form der symbolischen Wiedergutmachung zu erlangen. Denn wer ab den 1950er-Jahren eine fremde Staatsbürgerschaft angenommen hatte, dem war es vor dem österreichischen Gesetz verwehrt, wieder Österreicher werden. Auch auf politischer Ebene wurde das Trauma der NS-Opfer lange ignoriert, antisemitische Vorstellungen waren in weiten Teilen Österreichs verbreitet. Folglich war die politische Lage in Österreich nach dem Krieg von Unsicherheiten für NS-Opfer geprägt und es wurden kaum Perspektiven für Geflüchtete geschaffen. Von rund 110.000 Verfolgten und vertriebenen Juden und Jüdinnen sind daher nach dem Krieg nur 4.000 bis 5.000 nach Österreich zurückgekehrt. Die Mehrheit waren Überlebende aus den Konzentrationslagern. Aus den Vereinigten Staaten kehrten nur rund drei Prozent Geflüchteten wieder zurück. Viele fühlten sich nicht willkommen: Einige der Zurückgekehrten wanderten in den späten 40er Jahren wieder aus.
Während die österreichische Regierung 2020 mit der Staatsbürgerschaftsgesetzesnovelle einen späten Schritt in Wiedergutmachung macht und sich das offizielle Österreich seit vielen Jahren öffentlich gegen Antisemitismus wendet, geht aus dem Antisemitismusbericht des österreichischen Parlaments von 2023 hervor, dass jeder dritte Österreicher immer noch ein antisemitisches Weltbild vertritt.
Vor allem bei unter 25-jährigen Österreichern sowie türkisch- und arabisch-sprachigen Befragten ist diese Haltung verbreitet. Ein Viertel davon sind der Meinung, Juden und Jüdinnen versuchten Vorteile daraus zu ziehen, Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Trotz Schritten der Wiedergutmachung und Unterstützung von Seiten der Regierung gibt es also eine Kontinuität antisemitischen Denkens.
Israelis wollen in die Europäische Union
Ähnliche Trends gibt es auch in anderen Ländern der EU. Und dennoch: Ende 2022 veröffentlichte die Jewish Agency Daten über die Zahl der Neueinwanderer. Das Land rühmte sich mit rund 70.000 Zuwanderern, der höchste Wert seit 23 Jahren. Das Problem für Israel sind jedoch nicht die neuen Einwanderer, sondern das Phänomen, das im Hebräischen als "Yordim" bekannt ist - ein Begriff, der verwendet wird, um Juden und Jüdinnen zu beschreiben, die den jüdischen Staat verlassen.
Laut der israelisch-hebräischen Zeitung "Maariv" haben seit der Staatsgründung bis 2020 mehr als 756.000 Juden Israel verlassen. Als Gründe werden die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die zunehmende Ungleichheit und die Enttäuschung über die stockenden Friedensverhandlungen mit den Palästinensern, sowie die Eskalation des Konflikts in Gaza und in Palästina. Nach den Wahlen im November 2022, die zur Bildung einer Regierung unter Beteiligung von rechtsextremen Parteien in Israel führte, stieg auch die Zahl der israelischen Bürger, die die europäische Staatsbürgerschaft beantragten, deutlich an. So erhöhte sich die Zahl der Israelis, die die französische Staatsbürgerschaft beantragten, um 13 Prozent; die portugiesischen Behörden verzeichneten einen Anstieg um 68 Prozent, in Deutschland und Polen waren es je 10 Prozent.