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Synonym für Freiheit

Von Johannes Kunz

Reflexionen
Jazz, der Gänsehaut bereitet: Billie Holiday sang mit "Strange Fruit" gegen rassistische Lynchmorde an Schwarzen in den Südstaaten an.
© redferns / William Gottlieb

Eine (politische) Betrachtung zum Internationalen Tag des Jazz, der jährlich am 30. April begangen wird.


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Ist Jazz eine politische Musik? Der bekannte deutsche Jazzpublizist Joachim-Ernst Berendt meinte: ja. "Von Anfang an, von 1900 an - nicht weil die Musiker es so gewollt haben, sondern weil ihre Musik in eine Gesellschaft hineintönte, die sich instinktiv zu ihr in Widerspruch und Widerstand fühlte."

Der Jazz sei im Süden der USA aus der musikalischen Begegnung von "Schwarz" und "Weiß" entstanden: "Im Zueinander der Rassen, das so wichtig in der Entwicklung des Jazz ist, liegt das Symbol für das ‚Zueinander schlechthin‘, das den Jazz in seinem musikalischen, nationalen und internationalen, sozialen und soziologischen, politischen, ausdrucksmäßigen und ästhetischen, ethischen und ethnologischen Wesen kennzeichnet."

Protest & Rebellion

Für den Afroamerikaner Stanley Crouch, den 2020 verstorbenen Mentor des Trompeters Wynton Marsalis aus New Orleans, war die Vorstellung von Jazz als politischer Musik hingegen eine Erfindung weißer Kritiker. Unbestritten ist freilich, dass dem Jazz eine politische Dimension innewohnt. Der Jazz sei in seiner Gründungsphase die Musik eines unterdrückten Volkes und unterdrückter Klassen gewesen, formulierte der Sozialhistoriker Eric J. Hobsbawm in seinem Buch "The Jazz Szene". Er bezeichnet darin den Jazz als "a music of protest and rebellion".

Schon die frühen Blues-Interpreten wie Bessie Smith sahen sich als Afroamerikaner, die jahrhundertelang unter der Sklaverei zu leiden hatten und nach Aufhebung derselben oft noch ärger diskriminiert wurden. Das konnte man aus ihren Stimmen heraushören. Überhaupt spielt der Kampf gegen den Rassismus von der Frühzeit des amerikanischen Jazz bis in unsere Tage eine große Rolle. Lange Zeit war es verpönt, schwarze und weiße Musiker gemeinsam in einem Orchester auftreten zu lassen. Es gab rein schwarze und rein weiße Bands. Als der aus einer jüdischen Einwandererfamilie stammende Klarinettist und Bandleader Benny Goodman in den 1930er Jahren in seinem gefeierten Quartett neben dem weißen Schlagzeuger Gene Krupa die Afroamerikaner Teddy Wilson am Piano und Lionel Hampton am Vibrafon hatte, war dies bahnbrechend.

1939 machte die Sängerin Billie Holiday im New Yorker Café Society das von Abel Meeropol komponierte Lied "Strange Fruit" bekannt, das eine musikalische Anklage der rassistischen Lynchmorde an Schwarzen in den Südstaaten war. Meeropol schrieb auch den antirassistischen Song "The House I Live In", den Frank Sinatra 1945 in dem gleichnamigen Film sang.

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Als der Trompeter Dizzy Gillespie 1946 mit eigener Big Band und der gerade zu Starruhm aufgestiegenen Sängerin Ella Fitzgerald durch den Süden der USA tourte, wurden die schwarzen Musiker entsprechend der Segregation in billigen Fremdenheimen untergebracht, während ihre weißen Kollegen in den besten Hotels logierten. Viele weiße Südstaatler begeisterten sich für den "schwarzen" Jazz, hielten aber Distanz zu dessen afroamerikanischen Interpreten. Und die schwarzen Jazzmusiker, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Wehrdienst in die USA zurückkehrten, mussten die schmerzliche Erfahrung machen, dass sich in Teilen ihrer Heimat an der Rassentrennung nichts geändert hatte.

Anti-Jazz-Haltung

Der Plattenproduzent Robert Kraft schilderte deren Situation: "Amerika hatte gerade einen Freiheitskrieg geführt und seine schwarzen und weißen Soldaten waren ausgezogen, ganze Völker vom Faschismus zu befreien und sie aus katastrophalen Verhältnissen herauszuholen. Doch die schwarzen Soldaten kamen nach Amerika zurück und durften nicht durch die Vordertüren der Restaurants gehen, in denen sie auftraten. Wenn sie auf den Podien weißer Hotels musizierten, war es ihnen nicht gestattet, dort zu übernachten. Sie mussten in anderen Hotels schlafen. Das muss ein ungeheures Maß an Konflikten, Wut und Missstimmung heraufbeschworen haben."

In unseren Breiten gab es seit den 1920er Jahren eine weit verbreitete Anti-Jazz-Haltung, wobei gleichfalls Rassismus im Spiel war. Als Josephine Baker, keine Jazzkünstlerin im engeren Sinn, 1928 in Wien auftrat, zeigten sich christlich-soziale und rechtsradikale Kreise im Kampf gegen die "Amerikanisierung", die "Vernegerung" der Kultur, vereint. Im Nationalrat protestierten christlich-soziale Abgeordnete gegen den Auftritt der Baker, die sich noch dazu auf den Konzertplakaten bloß mit Federn und Perlen bekleidet zeigte. Und im Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer" wurde die Sängerin und Tänzerin als "verkörperte Sünde wider das Blut" bezeichnet: "Das Produkt rassenschänderischen Beischlafs zweier Menschen, ein Mischling, ein Bastard. Ihr Vater ist ein Neger (jüdischer Konfession) und ihre Mutter eine weiße Frau germanischer Herkunft."

Verbotene Aufnahmen

In der Weimarer Republik sprach Minister Frick 1931 ein Jazz-Verbot für den Gau Thüringen aus. Und die Reichsregierung erließ ein Auftrittsverbot für farbige Musiker in deutschen Kapellen. Als dann die Nazis an die Macht kamen, wurde der Jazz als "unerwünscht" erklärt und fiel unter die Kategorie "entartete Kunst".

1935 untersagte der Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky jede Jazzmusik in allen Reichssendern. Allerdings konnte man noch immer an Schallplatten amerikanischer Jazzbands kommen, wenn man über entsprechende Kontakte verfügte. Aufnahmen des "antifaschistischen Juden" Benny Goodman waren im Dritten Reich aber offiziell verboten. Ende der 1930er Jahre gab es eine Ausstellung "Entartete Musik" in Düsseldorf, Weimar und Wien. Auf dem Ausstellungsplakat sah man einen Saxofon spielenden Affen mit dem Judenstern. Damit sollte auf Ernst Kreneks Jazzoper "Jonny spielt auf" Bezug genommen werden.

Aber was verboten ist, wird erst recht interessant. Und so setzten Jugendliche im gesamten Reich, also auch in der "Ostmark", der Uniformierung der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädchen eine eigenwillige Kleidung entgegen, begeisterten sich für die geächtete Jazzmusik und ersetzten den Gruß "Sieg Heil" durch ein entschlossenes "Swing Heil!"

Der berühmte Neurologe und Psychoanalytiker Erwin Ringel, Jahrgang 1921, war ein entschiedener Gegner der Nazis und wurde nach der Okkupation Österreichs durch Hitler-Deutschland zu einem illegalen Jazzfan. Jahrzehnte später erinnerte er sich an die Jazzmusiker Mytteis, Landl und Kregcyk, die damals in der Steffl-Diele aufgetreten waren. Das war natürlich eine riskante Angelegenheit. Sie durften ihre Musik nicht Jazz nennen, also spielten sie "moderne deutsche Tanzmusik".

Erwin Ringel, der große katholische Antifaschist, blieb dem Jazz bis zu seinem Tod 1994 verbunden: "Jazz ist eine Weltanschauung im Sinne von Liberalität und humanistischer Toleranz. Jazz ist Therapie für alle, die Sehnsucht haben, ihren Gefühlen einen guten Ausdruck zu geben. Die Nationalsozialisten wollten uns einreden, dass der Jazz eine Entartung, eine Karikatur, eine Missgeburt der Musik ist. Schon dadurch haben sie unsere liebevolle Aufmerksamkeit auf die ‚Negermusik‘ gelenkt."

Miteinander-Wollen

Nach 1945 eroberte der Jazz als musikalisches Synonym für Freiheit nicht nur Wien, sondern auch die österreichische Provinz. Der bekennende Jazzfan Hugo Portisch, der populärste Journalist des Landes, der die Jazzbegeisterung der Nachkriegszeit miterlebt hat, erinnerte sich: "Es gibt kaum einen stärkeren musikalischen Ausdruck für Individualismus, für die Sehnsucht nach Freiheit. So gibt es wohl auch keine andere Musikkategorie, die kraft ihrer selbst ein derartiges Bekenntnis zu Toleranz, gegenseitiger Achtung und Anerkennung ablegt wie der Jazz, der das Miteinander-Können, ja das Miteinander-Wollen, voraussetzt. Der Jazz ist an verschiedenen Stellen der USA entstanden, aber er kam dahin aus allen Kontinenten. So ist seine Heimat die Welt. Sein Idealismus hat die Engstirnigen, die Kleingeistigen, daher immer geschreckt wie auch die Diktatoren."

Dizzy Gillespie bei der Arbeit (1991).
© Roland Godefroy, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

Bekämpften die Nazis den Jazz als "jüdische Negermusik", so wurde er im Stalinismus der Sowjetunion als Ausdruck des "amerikanischen Kulturimperialismus" gebrandmarkt. Joachim-Ernst Berendt hatte schon recht: "Gegner können das Charakteristische einer Kunst oft auf elementarere Weise ‚wittern‘ als Anhänger. Auch die Diktatoren linker und rechter Prägung von Hitler bis Stalin, von Peron bis zu den japanischen Generälen, die den Jazz abgelehnt, meist auch gleich verboten haben, haben ja das Richtige gehört. Sie wussten genau, was sie taten. Goebbels zum Beispiel begriff: Wenn die braune Ideologie Bestand haben sollte, war es einfach notwendig, Jazz zu verbieten. Wenn Jazz bloß Musik wäre, ohne Bezug auf die Art, wie einer ist und lebt, denkt und fühlt, sich und seine Mitmenschen sieht, dann hätte es nichts zu verbieten gegeben."

Die multikulturellen Wurzeln des Jazz, das ihm innewohnende Element der Freiheit (Improvisation, Free Jazz) machen ihn auch heute noch für Autokraten suspekt. Nach dem Tode Josef Stalins 1953 war es für eine neue Generation von Sowjetbürgern plötzlich möglich, sich öffentlich zum Jazz zu bekennen. Man verlangte nach dem "neuen" Jazz, dem von Charlie Parker und Dizzy Gillespie entwickelten Bebop. In dieser aufregenden Musik entdeckten die jungen Sowjetbürger bisher unbekannte Emotionen, und sie projizierten den eigenen Wunsch nach Freiheit in den Bebop.

"Democracy! Suite"

Nina Simone, die "High Priestess of Soul", im Jahr 1965.
© Ron Kroon / Anefo Restored by Bammesk, CC0, via Wikimedia Commons

Die "Voice of America" reagierte ab 1955 mit der Sendereihe "Jazz Club USA", die von Willis Conover moderiert wurde, der wie kein anderer in den folgenden Jahren den Jazz im ganzen kommunistischen Osten populär machte. In Amerika begleiteten Funk und Soul die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die sich für die Gleichstellung der Afroamerikaner einsetzte. Die Gospelqueen Mahalia Jackson sang unmittelbar nach der historischen Rede "I Have A Dream" von Martin Luther King am 28. August 1963 vor 250.000 Menschen in Washington. Und die afroamerikanische Sängerin und Pianistin Nina Simone, die man "High Priestess of Soul" nannte, wurde mit ihrem Song "Mississippi Goddam" über die Gewalt weißer Rassisten gegen schwarze Mitbürger zur führenden musikalischen Stimme der Bürgerrechtsbewegung.

Mit dem Thema des Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft haben sich viele große Jazzmusiker kompositorisch auseinandergesetzt - von Duke Ellington ("Black, Brown And Beige") über Max Roach ("We Insist! Freedom Now Suite") bis zu Dave & Iola Brubeck ("The Real Ambassadors"), um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die Brubeck-Komposition bezog sich auf das Programm des State Department, angesichts des schlechten Images der USA infolge der Rassenunruhen prominente amerikanische Jazzstars mit ihren Bands ins Ausland zu schicken, damit sie mit ihrer weltweit populären Musik gute Stimmung für die Vereinigten Staaten machen. Unter diesen Musikern waren auch Afroamerikaner wie Louis Armstrong, Dizzy Gillespie oder Duke Ellington, also Angehörige der benachteiligten Minderheit.

Die umstrittene Politik von Präsident George W. Bush, der den Irak-Krieg vom Zaun gebrochen hatte, wurde von Keith Jarrett oder Charlie Haden musikalisch reflektiert. Und zuletzt bezog Wynton Marsalis angesichts der Infragestellung demokratischer Standards durch Präsident Donald Trump klar Position. Seine achtteilige "The Democracy! Suite", 2021 auf CD erschienen, soll daran erinnern, dass die Demokratie immer wieder verteidigt bzw. neu erkämpft werden muss.

Erhob seine Stimme nicht zuletzt gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump: Wynton Marsalis.
© getty images / Taylor Hill

Nicht nur in Amerika, auch in Europa ist angesichts eines erstarkten Rechtspopulismus und der Renaissance des Nationalismus eine Politisierung von Kunst und Künstlern zu registrieren. Das gilt nicht nur für den Jazz und seine Protagonisten. Die Musik - und zwar jede - steht stets in einem Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Ist Musik gesellschaftskritisch, wie es der Jazz im Laufe seiner Geschichte immer wieder war und ist, gilt sie als links. Ist die Musik aber von nationalem Pathos geprägt, was auf Nationalhymnen oder Militärmärsche zutrifft, ist das freilich etwas ganz anderes, aber natürlich auch von politischer Relevanz.

Infragestellen mit Musik

Der Jazz in all seiner Vielfalt, mit seinen verschiedenen Stilen und scheinbaren Stilbrüchen, spiegelt musikalisch die diversen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung wider. Und das nicht nur in Amerika, denn der Jazz ist längst zur "Weltmusik" geworden. Er absorbiert europäische, asiatische oder lateinamerikanische Einflüsse. Man könnte auch sagen, der Jazz ist zur Begleitmusik der Globalisierung im 21. Jahrhundert geworden.

Der Jazz wurde oft totgesagt und ist doch lebendig geblieben. Er kann unterhaltend und tanzbar sein wie in der Swing-Ära der 1930er Jahre mit ihren fulminanten Big Bands, und doch hat er sich von seiner Entstehung um 1900 bis heute seinen kritischen Ansatz bewahrt. Jazz ist immer auch das Infragestellen von Konformität und Bequemlichkeit jeder Art, er ist eine demokratische, wenn man will antiautoritäre Musik. Jazzmusiker artikulieren mit den künstlerischen Mitteln ihrer Zeit die Weltsicht ihrer Generation in einer sich rasant verändernden, aber immer noch unvollkommenen Gesellschaft.

Besser als der legendäre Impresario Norman Granz kann man die ewig zeitgemäße politische Dimension dieser Musik nicht auf den Punkt bringen: "Jazz bringt die Menschen zusammen - unter völliger Vernachlässigung von Rasse, Hautfarbe und Glauben."

Johannes Kunz, geboren 1947, war von 1973 bis 1980 Pressesprecher von Bundeskanzler Bruno Kreisky und von 1986 bis 1994 ORF-Informationsintendant. Autor mehrerer Bücher zu politischen Themen und Jazz, darunter Biografien über Frank Sinatra und Ella Fitzgerald.