Türkisches Parlament ermächtigt Regierung zum Militäreinsatz in Syrien.
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Ankara/Damaskus/Wien.
Die Eskalationsspirale dreht sich weiter: Nachdem am Mittwoch eine Türkin und ihre vier Kinder bei syrischem Artilleriebeschuss auf die türkische Grenzstadt Akcakale ums Leben gekommen waren, antwortete die türkische Armee mit einem Vergeltungsangriff nahe der syrischen Stadt Tell Abyad, die rund zehn Kilometer von der gemeinsamen Grenze entfernt liegt. Dabei sind nach Informationen des arabischen Nachrichtensenders Al-Jazeera insgesamt 34 Menschen gestorben.
Das Nato-Mitglied Türkei hat wegen des Grenzscharmützels die Alliierten nach Artikel 4 in Brüssel zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen, das Militärbündnis forderte Syrien nach der Sitzung in einem Communique auf, den "abscheulichen Bruch internationalen Rechtes" zu beenden.
Die Einberufung nach Artikel 4 der Allianz liefert einen Hinweis darauf, dass die Türkei vorerst keine weitere Eskalation der Lage will. Artikel 4: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Die Türkei hätte die Sitzung auch gemäß Artikel 5 einberufen können. Diese Passage im Nato-Vertrag beschreibt den sogenannten Bündnisfall: Für diesen Fall ist vereinbart, dass die Bündnispartner dem angegriffenen Nato-Mitgliedsland mit Kampfeinheiten zur Seite stehen. Einige Bündnispartner - allen voran Deutschland - hätten wohl auch Probleme mit der Ausrufung des Bündnisfalls gehabt.
Dass das türkische Parlament grünes Licht für mögliche Militäreinsätze im Nachbarland Syrien über den Zeitraum eines Jahres gegeben hat, erweitert den Spielraum des türkischen Militärs. In Ankara heißt es, das Ermächtigungsgesetz für das türkische Militär sei keine Kriegserklärung, sondern eine Warnung.
PKK als Syriens Instrument?
Die Türkei ist längst zum bedeutendsten ausländischen Player im syrischen Bürgerkrieg mutiert: Das Hauptquartier des oppositionellen Syrischen Nationalrats befindet sich in der Türkei, und das Kommandozentrum der Freien Syrischen Armee (FSA) wurde erst kürzlich von der Türkei nach Syrien verlegt. Rund 100.000 Syrer sind bisher über die Grenze in die Türkei geflüchtet. Die Türkei spielt auch die wichtigste Rolle im Klub der Freunde der Syrischen Opposition: Da die Truppen der syrischen Opposition einige Grenzübergänge zur Türkei kontrollieren, läuft der größte Teil des Nachschubs für die FSA über die Türkei.
Die USA und die europäischen Nato-Verbündeten sind der Meinung, dass die Türkei als Syriens Nachbar innerhalb der Allianz eine Führungsrolle übernehmen soll. Die Türkei soll auch den Einfluss der Golfstaaten (vor allem Katar und Saudi-Arabien) begrenzen. Denn vor allem die Europäer (aber auch die USA) haben kein gesteigertes Interesse daran, dass Syrien radikalislamischen, wahhabitischen Gruppierungen - diese Gruppierungen in Zukunft als Basis dient. Für die Türkei ist es nicht ungefährlich, sich derart zu exponieren: Sowohl Syrien als auch Syriens wichtigste Verbündete Iran und Russland verfügen über Möglichkeiten, türkischen Interessen zu schaden.
Syrien unterstützt bereits jetzt die PKK (kurdische Arbeiterpartei Kurdistans - Partiya Karkerên Kurdistan), die der türkischen Armee im Südosten des Landes erhebliche Probleme bereiten kann. Die türkische Regierung ist davon überzeugt, dass syrische Geheimdienste zuletzt die Kontakte zur PKK intensiviert haben. Die Türkei hat eine gemeinsame Grenze zum Iran und ist nicht daran interessiert, dass der Bürgerkrieg in Syrien sich zu einem regionalen Krieg ausweitet - doch wie der Artilleriebeschuss von syrischer Seite auf türkisches Territorium vom Mittwoch zeigt, lauert überall die Gefahr einer Eskalation.