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Syrische Radikale gehen selbst Al-Kaida zu weit

Von David Ignatius

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Die islamistische Gruppierung Isis finanziert sich mittlerweile selbst und ist nicht mehr auf die Unterstützung aus der Golfregion angewiesen.


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Das Arsenal des Schreckens im syrischen Bürgerkrieg hat eine Terrorgruppe hervorgebracht, die so extrem ist, dass sie sogar von der Al-Kaida abgelehnt wird - und diese giftige Gruppierung schafft sich gerade in der Stadt Raqqah im Norden Syriens einen Zufluchtsort, der bald dazu benützt werden könnte, Ziele im Ausland anzugreifen. Im Westen ist diese hypermilitante Terroreinheit unter dem Namen Isis bekannt: Islamic State of Iraq and Syria.

Die Anstrengungen von Isis, ein muslimisches Kalifat zu errichten, das sich über den Irak und Syrien erstreckt, und sich die Al-Nusra-Front, einen anderen Al-Kaida-Ableger, einzuverleiben, brachte der Gruppe vor einem Jahr einen Rüffel von Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri ein. "Ich muss mich zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft Zawahiris entscheiden, und ich wähle die Herrschaft Gottes", donnerte daraufhin der charismatische Isis-Führer Abu Bakr al-Baghdadi.

US-Geheimdienste arbeiten mit den Geheimdiensten des Nahen Ostens und Europas zusammen, um die Spuren von Isis- und Al-Nusra-Front-Mitgliedern zu verfolgen und ausländische Kämpfer zu überwachen, die nach Syrien gereist sind, um sich dem Dschihad anzuschließen. Aus ihrer Arbeit ergibt sich ein nützliches Bild: Von den rund 110.000 Oppositionskämpfern in Syrien bringt es Isis auf 5000 bis 10.000, die Al-Nusra-Front auf 5000 bis 6000 und Ahrar al-Sham, eine dritte militante sunnitische Gruppierung, hat 10.000 bis 15.000 Mitglieder, von denen einige extremistische Tendenzen zeigen.

Bis zu 15.000 Ausländer haben sich der syrischen Opposition angeschlossen. Sie kommen aus so unterschiedlichen Gegenden wie Tschetschenien, Australien, Libyen, Belgien und den USA. Geheimdienstanalysten sollen besonders die 1500 ausländischen Kämpfer Sorgen machen, die sich dank ihrer europäischen Pässe dort ungehindert bewegen und auch in die USA relativ bequem einreisen können.

Isis hat sich in der 220.000-Einwohner-Stadt Raqqah einen sicheren Zufluchtsort errichtet. Die Isis-Kämpfer kontrollieren die Stadteinfahrten und Stadtausfahrten. Sie verkaufen die Öl- und Gasvorkommen der Region, um ihre Operationen zu finanzieren, und ergänzen ihre Einnahmen durch Kidnapping und andere kriminelle Aktivitäten. US-Regierungsbeamte gehen davon aus, dass Isis sich nun selbst finanziert und nicht mehr auf die Unterstützung reicher Geldgeber aus der Golfregion angewiesen ist.

Wie der Name schon andeutet, versucht Isis, Sunniten im Irak und in Syrien zu mobilisieren. Und es ist ein Alptraum für US-Terrorabwehranalysten, dass Isis und die anderen Al-Kaida-Ableger neue Anhänger unter den Millionen von verzweifelten syrischen Flüchtlingen in Jordanien, im Libanon, in der Türkei und auch in Syrien selbst rekrutieren könnten. Ein erfahrener US-Regierungsbeamter hält die Terrorbedrohung, die von Syrien und dem Irak ausgeht, für die potenziell beunruhigendste Entwicklung im Nahen Osten seit dem späten 1970er Jahren. Die USA mögen sich weniger für die Dschihadisten interessieren als noch vor einem Jahrzehnt, aber diese interessieren sich noch immer sehr für die USA.

Übersetzung: Redaktion