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Bestechungssystem wurde zum Fass ohne Boden – auf Kosten der Wirtschaft.
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"Wiener Zeitung": In Russland wächst die Unzufriedenheit mit dem System Putin, es gibt Demonstrationen, in Internetforen wird gegen die Korruption mobilisiert. Das System Putin ist in einer Legitimationskrise – wird es implodieren wie einst die Sowjetunion?
Vladislav Inozemtsev: Dass der Unmut der Bevölkerung sehr groß sei, scheint mir übertrieben. Was wir sehen, ist, dass ein – kleiner – Teil der Mittelklasse wirklich sowie manche Fraktionen innerhalb der Oppositionsparteien mit Putin unzufrieden sind. Das sind die, die heute die Massendemos organisieren. Diese Symbiose zwischen einem Teil der Mittelklasse und diesen Politikern macht die Proteste.
Die Oppositionsführer sind nicht sonderlich populär.
Viele Russen sind überzeugt, dass sie nur auf die Straße gehen, weil sie ihre alten Posten aus der Jelzin-Ära zurückhaben wollen. Dass es ihnen also um politischen Einfluss für persönliche Zwecke geht. Und nicht zu vergessen: Diese Proteste, die erst ein Jahr alt sind, brachen erst nach den Parlamentswahlen aus – sie waren eine Reaktion auf den Wahlbetrug.
Wahlbetrug gab es schon früher. Protest erst jetzt. Das zeigt doch, dass sich eine Menge Unmut gegen das politische Establishment aufgestaut hat – und artikuliert wird.
Aber gegen Wahlbetrug protestieren heißt nicht, die Politik der Regierung grundlegend ablehnen. Ja, wir haben Volksproteste, ja, es gibt eine riesige Unzufriedenheit mit Putins Regime, seine Popularität sinkt, aber man sollte dies nicht als Zeichen sehen, dass die Menschen bereit sind für einen Wechsel und das Regime am Ende ist. Es ist stabil. Und dann darf man eines nicht vergessen: Die, die bei den Massendemos auf die Straße gingen, machen gerade mal ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 45 Prozent sagten zwar laut Umfragen, dass sie die Demonstrationen unterstützen, aber nur 2,5 Prozent, dass sie daran teilnehmen würden. Da klafft eine riesige Lücke.
An einem – nicht genehmigten – Moskauer Protestmarsch Mitte Dezember nahmen nur mehrere Tausend Menschen teil. Erwarten Sie, dass die Proteste einschlafen?
Wenn etwas geschieht, das den Menschen gegen den Strich geht, etwa wenn Putin gegen die Demonstrationen hart durchgreift, dann werden wieder 100.000 auf der Straße sein. Aber ich bin vollkommen sicher, dass eine Bewegung wie Ende der 1980er Jahre (die schließlich die UdSSR zu Fall brachte; Anm.) derzeit in Russland nicht existiert. Die Lage von damals ist mit der von heute nicht vergleichbar. Russland ist heute ein sehr freies Land: du kannst Geschäfte machen, du kannst Eigentum anhäufen, du kannst ins Ausland reisen. Man fühlt sich persönlich absolut frei.
Wenn man das System nicht offen kritisiert. Was war Ihrer Meinung nach der eigentliche Auslöser dafür, dass Putins Image einen Riesenkratzer bekommen hat?
Die Ankündigung seiner Wiederkandidatur für das Präsidentenamt im Herbst des Vorjahres: (Dmitri) Medwedew ist zwar nicht sonderlich beliebt, aber als er Putin 2008 im Kreml abgelöst hatte, hatten viele Russen das Gefühl, es gibt einen Wandel; selbst wenn Putin als Premier hinter den Kulissen weiter die Fäden zog, gab es Bewegung. Sogar in China findet ja alle zehn Jahre ein Führungswechsel statt.
Viele Russen gingen davon aus, dass Medwedew nach einer zweiten Amtszeit von einer neuen Führung abgelöst würde. Als Putin seine Rückkehr in den Kreml ankündigte, wurde jedem Russen klar, dass er ewig an der Macht bleiben will. Das hat Putins Popularität stark erodiert. Er stieg de facto zum Diktator auf Lebenszeit auf. Man verstand: Die vier Jahre Medwedew waren nur ein Marionettenspiel.
Hätte er die Präsidentenwahl auch ohne Manipulationen gewonnen?
Selbst wenn die Wahlen frei und fair gewesen wären, hätte Putin in einer Stichwahl gesiegt. Putin ist immer noch die populärste politische Figur im Land, wenngleich er von den einstigen 70 Prozent inzwischen weit entfernt ist. Heute können wir grob von einer Zustimmungsrate um die 50 Prozent sprechen.
Wie erklären Sie sich dann Putins zuletzt geradezu paranoides Durchgreifen gegenüber seinen Kritikern – Stichworte Pussy Riot, Ermittlungen gegen Oppositionsführer?
Das ist eine gute Frage. Putins Weltsicht ist die eines ehemaligen KGB-Spions. Und auch sein Verhalten ist so. Diese Menschen ticken anders als normale Leute. Er sieht in allem und jedem immer eine Gefahr. Das Gefühl der Unsicherheit ist omnipräsent. Hinter jeder Kritik vermutet er Schachzüge seiner Feinde, er versteht nicht oder will nicht verstehen, wie ein normaler politischer Prozess abläuft. Also ein gewisses Maß an Paranoia ist vorhanden. Und war es die letzten 13 Jahre.
Was würden Sie ihm stattdessen raten?
Die Opposition in das politische System einzubinden. Die Elite sollte sich einzelne Protagonisten heraussuchen und ihnen politische Verantwortung übertragen. Sie also kandidieren und da und dort auch gewinnen lassen. Russland hat 87 Provinzen: Da kann es doch kein Problem sein, der Opposition zehn Gouverneurs- und ein paar Bürgermeisterposten zu überlassen! Einige ihrer Positionen könnte die Regierung dabei durchaus übernehmen. Damit könnte sie einige Teile der Opposition neutralisieren. Ich denke, es wäre so viel leichter für die politische Elite, ihre Macht zu zementieren. Aber Putin tut das nicht. Er will jedem zeigen, dass Demokratie kein Thema ist, und nicht die geringsten demokratischen Zugeständnisse machen. Das ist sein Weltbild.
Was die Opposition auch auf die Barrikaden bringt, ist die grassierende Korruption in Politik und Verwaltung. Warum sträubt sich Putin so, dagegen vorzugehen?
Die Korruption ist die Grundlage, auf der das Regime ruht. Das war von Anfang an so. Sie bildet einen wichtigen Eckpfeiler der putinschen Machtvertikale. Jeder, der zum Minister oder Vizeminister oder auch nur einem niederrangigen Beamten ernannt wird, unterliegt ihren Regeln. Diese lauten: Du darfst – entsprechend deiner Stellung – ein bestimmtes Maß an Schmiergeldern nehmen oder dich sonst illegal bereichern. Du darfst aber nicht denen, die über dir sind, in die Quere kommen oder dich in deren Geschäfte einmischen. Sonst sind dir bei der Anhäufung illegaler Geldern kaum Grenzen gesetzt. Im Gegenzug verlangt das System von dir totale Loyalität. So funktioniert es.
<br style="font-style: italic;" /> Und die Leidtragenden zahlen brav und schweigen?
Es ist interessant, dass auch die Leute, die nicht in Korruption verwickelt sind, vielleicht 80 Prozent, diesem System zustimmen. Sie finden es nicht so schlecht. Nehmen sie einen Unternehmer: Wenn er eine Bewilligung braucht, um sein Business auszuweiten, ist es für ihn sehr viel leichter, einen Offiziellen zu bestechen als sich in dem unendlichen Bürokratiedschungel um alles selbst kümmern zu müssen. Also ist der einfachste und effektivste Weg, die Machtvertikale zu schmieren. Das ist eine Art Vertrag zwischen der Macht und dem Volk, mit dem einige in einer solch komplexen Gesellschaft wie der russischen gut leben.
Und wie läuft dieser Prozess dann in den höheren politischen Kreisen ab?
Dort geht es subtiler zu. Ein Unternehmer, der eine Eisenbahnstrecke bauen will, kommt nicht mehr mit einem Aktenkoffer voller Geld zum Minister und sagt: gib mir den Auftrag. So lief es noch vor zehn Jahren. Heute hat ein Minister oder ein Vizepremier dutzende ihm nahestehende Firmen um sich geschart – Verwandte, Freunde, Businesspartner, die die Staatsaufträge ausführen dürfen. Alles sieht nach außen sauber aus, es gibt Ausschreibungen für die Aufträge, es gibt Verträge. Die Gewinne dieser Firmen werden dann zwischen den Unternehmern und den hochrangigen politischen Auftraggebern aufgeteilt und landen dann auf anonymen Konten im Westen. Macht wurde in Russland zum profitabelsten Business überhaupt.
Und damit hat die Bevölkerung kein Problem?
Was die Russen nicht mögen, ist, wenn sich die Bedingungen für Bestechung andauernd ändern. Seit Russland mit Weißrussland und Kasachstan eine Handelsunion unterhält, haben viele meiner Freunde ihre Geschäftstätigkeiten nach Belarus verlagert – weil dort die Bestechung kalkulierbarer ist. Du zahlst, aber du weißt, dass du das nächste Jahr den gleichen Tarif zahlen wirst – an den gleichen Mann, und dass du dann das ganze Jahr keine Probleme mehr haben wirst.
In Russland bestichst du einen Offiziellen und in zwei Wochen kommt ein anderer und will auch Geld – und du zahlst letztlich x-mal und jedes Jahr mehr. Auf die Korruption ist kein Verlass.
<br style="font-style: italic;" /> Ging es in Ära vor Putin, unter Jelzin, denn berechenbarer zu?
Ja. In den 90ern bestach man den Staat für Dinge, die man legal nicht bekam. Heute zahlt man auch dann, wenn man alles gemäß dem Gesetz abwickelt. Sonst bereiten sie dir Probleme – und einen Grund finden sie immer. Der Druck der Bürokratie ist enorm gewachsen. Und er wird weiter wachsen. Der Staat will von den Leuten immer mehr Schmiergeld in immer kürzerer Zeit herauspressen.
<br style="font-style: italic;" /> Was die Preise in die Höhe treibt.
Und wie. Nehmen Sie die legendäre Kalaschnikow. Der Stückpreis ist seit 2001 um das Neunfache gestiegen, dabei hat sich an der Technologie der Schusswaffe, die in Sowjetzeiten entwickelt wurde, in den vergangenen 12 Jahren nichts geändert. Das heißt, die Produktionskosten haben sich kaum erhöht, aber immer mehr Leute wollen mitverdienen.
Oder nehmen Sie den Aluminiumsektor: Für den besitzt United Company Rusal des Oligarchen Oleg Deripaska in Russland seit 2006 ein Monopol. Die Anti-Kartellbehörde stimmte damals unter der Bedingung zu, dass der Inlandspreis für Aluminium nicht mehr als 50 Prozent über dem für den Export bestimmten Metalls liegen darf. Damit wollte der Staat unter anderem die Flugzeugproduktion in Russland ankurbeln. Dennoch werden Maschinen nur noch importiert, weil sie im Ausland billiger sind.
<br style="font-style: italic;" /> Welche Folgen hat das für die russische Wirtschaft?
Verheerende. Medwedew hat während seiner Präsidentschaft deshalb versucht, sie zu ändern. Aber es war klar, dass er scheitern würde. Er wusste, die Kosten müssen runter; aber das ist genau das Gegenteil von dem, was die Putin-Regierung wollte. Denn das auf Loyalität beruhende System funktioniert nur, wenn es gut genährt ist.
<br style="font-style: italic;" /> Für Putin lauert also keine Gefahr?
Nicht, solange die Öl- und Gaspreise hoch bleiben und die Staatseinnahmen sprudeln. Wenn der Ölpreis allerdings auf 70 bis 80 Dollar fällt – und das über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren – und die Einkommen nicht mehr jährlich wachsen, bekommt er ein Riesenproblem. Deshalb hat Putin ja trotz Krise 2009 so akribisch darauf geachtet, dass die Gehälter und Pensionen für die Beamten angehoben werden.
<br style="font-style: italic;" /> Im Vorjahr stieg Russlands BIP um knapp über 3 Prozent. Wie ist Ihre Prognose für heuer?
Ich gehe von einem Wachstum von höchstens 1,5 Prozent aus. Denn die Industrieproduktion ist in den vergangenen Monaten stark gesunken, auch die Investitionen und die Aktivitäten im Bausektor zeigten nach unten. Aber wir haben Reserven von rund 200 Milliarden Dollar. Das geht; damit kommen wir zwei Jahre leicht durch.
Vladislav Inozemtsev ist Wirtschaftsprofessor an der renommierten Moskauer Universität "School of Economics", Direktor des Zentrums für Post-Industrielle Studien, Mitbegründer der Partei "Zivile Kraft" und Präsidiumsmitglied im russischen Rat für Internationale Angelegenheiten. Bis Ende Jänner weilt er als Gast des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.