Die Missbrauchsfälle an Rekruten in Deutschland haben jetzt europaweit ein Problem ins öffentliche Bewusstsein gerufen, das mehr oder weniger bekannt ist, aber selten medial oder wissenschaftlich thematisiert wird. Die Anthropologin Hana Cervinkova hat in einer Forschungsarbeit über die tschechische Armee nachgewiesen, dass derartige Übergriffe fixer Bestandteil militärischer Strukturen sind.
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Erst gestern wurden in Kroatien Vorwürfe laut, Offiziere hätten zwischen 1993 und 2000 junge Soldaten sexuell misshandelt - was der zuständige Verteidigungsminister Berislav Roncevic freilich bestritt: Man wolle "mutwillig eine Affäre konstruieren", so der Minister. Auch ein britischer Untersuchungsbericht ist nun aufgetaucht, wonach auf der Insel in der Vergangenheit Vergewaltigungen, Rassismus und ähnliche "systematische Schikanen" vorgekommen seien.
Inwiefern Erniedrigungen aller Art in Armeeverbänden System haben, ist Gegenstand ausgedehnter Forschungsarbeiten der Anthropologin Hana Cervinkova, die sich Verhaltensmuster innerhalb der tschechischen Armee genauer angesehen hat. Einerseits stieß Cervinkova im Zuge ihrer Untersuchungen auf ein Phänomen, das sie "Schwejkismus" taufte. Eine "nationale Phantasie", die sich an der berühmten Figur Jaroslav Haseks orientiere. Gemeint ist damit die dümmlich-schlaue Vorgangsweise Rangniedriger, die erwiesenermaßen bestens dazu geeignet ist, Vorgesetzte in Rage zu bringen: Das Bemühen, Befehle möglichst akkurat umzusetzen, endet hier zumeist im Chaos und gibt den Vorgesetzten der Lächerlichkeit Preis. Laut Cervinkova sind es nicht wenige Rekruten, die sich mit dem literarischen Anti-Helden identifizieren.
Perfide Hackordnung
Weit weniger amüsant sind allerdings jene Traditionen, die Cervinkova das "System des Mazactvi" nennt: Ausgeklügelte Rituale, die vor allem über das Element der Demütigung des Dienstjüngeren funktionieren und in vier Phasen ablaufen. Dieses System könne deshalb nahezu perfekt funktionieren, weil es sich beim Militär um ein abgeschottetes System handle das von äußeren sozialen Einflüssen nahezu unberührt sei, so die Wissenschafterin. Die Stellung einer Person in dieser Hierarchie sei von seinem Status im Zivilleben und seinem Alter unabhängig und orientiere sich an der Zeit, die der Betreffende bereits abgedient hat. Jeder Übergang zur nächsthöheren sozialen Position innerhalb dieses informellen Systems sei gekennzeichnet durch schwere physische und psychische Übergriffe, die die Dienstälteren an den Jüngeren verüben. Den Opfern werden dabei Tätigkeiten zugewiesen, die allgemein mit dem Attribut "weiblich" versehen sind, damit verbunden ist das mehr oder weniger deutliche Ausleben von Vergewaltigungs-Phantasien, was von einschlägigen Beschimpfungen bis zu physischen Übergriffen gehen kann.
Dutzende Todesfälle
Inwieweit hier Muster des früheren "Waffenbruders", der Roten Armee, übernommen wurden, ist unklar. Tatsache ist, dass "Mazactvi" in der heutigen russischen Armee bis zur Perfektion und mit schrecklichen Folgen praktiziert wird. Das System gewaltsamer Übergriffe läuft in Russland unter der Bezeichnung "Herrschaft der Großväter" und funktioniert nach dem gleichen Prinzip, allerdings mit weit gravierenderen Auswirkungen. Jährlich werden Dutzende Rekruten als Folge dieser Behandlung getötet, Tausende tragen bleibende psychische und physische Schäden davon, so ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass derartige Übergriffe auch in Berufsarmeen vorkommen können. Wahrscheinlich ist aber, dass die beschriebenen Praktiken in reinen Berufsarmeen wegen fehlender Voraussetzungen deutlich seltener sind. Damit rechnet auch die Wissenschafterin Cervinkova im Fall der von ihr untersuchten tschechischen Armee, die derzeit in einen Berufsverband umgewandelt wird.