Politologe Peter W. Schulze über Ukraine und Russland. | "Kreml betreibt keine Repression". | "Wiener Zeitung": Herr Schulze, nach Jahren des Polit-Hickhacks vollzieht sich in der Ukraine derzeit eine rasante Entwicklung. Für manche zu rasant: Schon ist die Rede von einer "Putinisierung" des Landes. | PeterW. Schulze: Ich mag den Begriff "Putinisierung" nicht. Aber gut: Es war Putin, der in Russland ab dem Jahr 2000 systematisch eine loyale Massenpartei aufgebaut hat, "Einheitliches Russland". Die illegalen oder halbkriminellen Stützen der Jelzin-Zeit - Oligarchie und regionale Eliten - wurden durch staatliche Maßnahmen in den Hintergrund gedrängt. Wenn wir dieses Bild auf die Ukraine übertragen, stimmt es nicht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Weil Janukowitsch ein Mann der Oligarchen ist?
Nun, das Parteiensystem der Ukraine ist - trotz der Orangen Revolution - das der 90er Jahre geblieben: Echte Parteien konnten sich nicht entwickeln, nur Klüngel, die von externen Kräften, also den Oligarchen, kontrolliert wurden.
Muss Janukowitsch also den russischen Weg gehen?
Ja - oder er bleibt weiterhin das Anhängsel der Oligarchen im Osten. Er hat es aber schwer. Die Ukraine ist gespaltener als Russland. Janukowitschs Partei der Regionen ist eine Regionalpartei, die im Osten und Süden ihre Stütze hat. Er muss versuchen, sie in der gesamten Ukraine zu verankern.
Wie realistisch ist das angesichts dieser Spaltung?
Wenn sich die Wirtschaftslage bessert, kann das gelingen. Wenn nicht, wird es wohl Proteste geben. Das könnte sich dann aufschaukeln, falls der Präsident gegen seine Gegner im Westen mit einem autoritären Kurs antwortet. Zumal die wirtschaftlich sowieso schlechter gestellt sind und sich auf Polen, EU und Nato hin orientieren.
Den Nato-Beitritt hatte Ex-Präsident Juschtschenko ja forciert betrieben - ein Fehler?
Es hat ganz stark polarisiert. Bei einem Beitritt wäre es zur Spaltung des Landes gekommen. Das wäre eine offene Kriegserklärung an Moskau gewesen. Die Gegnerschaft Georgiens kann man verschmerzen - aber 50 Millionen an der Grenze zu haben, mit ungeheuren militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen, die 80 Prozent des russischen Gases durchleiten? Das wäre wie ein zweiter Untergang der Sowjetunion gewesen, eine existenzielle Bedrohung. Ich glaube, dass der Kreml alles versucht hätte, diesen Kurs zu stoppen. Das ist jetzt vom Tisch.
Der ukrainische Nato-Beitritt wurde vor allem von den USA forciert. Wenn die Folgen derart gravierend gewesen wären, wie Sie sie schildern, warum hat man dann eine solche Politik riskiert?
Das ist das Hintreten auf einen am Boden liegenden Gegner. Man wollte Russland - das in den 90er Jahren ein Spielball war, ohne Gestaltungskraft - am Aufstieg hindern. Diese Politik wurde seit den 90er Jahren durchgezogen - obwohl es nach dem 11. September sogar eine Art Honeymoon in den russisch-amerikanischen Beziehungen gab. Der große Einschnitt erfolgte 2003 mit der Verhaftung von Michail Chodorkowski.
Und warum?
Er war der Liebling des angelsächsischen Establishments und der internationalen Finanzwelt, er wurde als das Idol des modernen Russlands gefeiert, ging bei den Mächtigen der westlichen Welt ein und aus. Nicht umsonst hat Chodorkowski - der sich auch damit brüstete, jedes Gesetz zu Fall bringen zu können, weil er sowieso 30 Prozent der Abgeordneten gekauft hätte - eine verhaltene, aber deutliche Option auf eine mögliche Präsidentschaft angedeutet. Als also dieser Mann des Westens ins Gefängnis wandert, verändert sich von einem Tag zum andern die Medienwelt: Es wird eine Kampagne gegen Russland losgetreten, systematisch, die bis heute anhält. In dieser Kampagne erscheint natürlich Putin als der Bösewicht schlechthin: Autoritärer Kurs, gelenkte Demokratie, Fassadendemokratie, all das. Das Einzige, womit sie Schwierigkeiten gehabt haben: Es gab keine Repression.
Keine Repression?
Keine massive Repression, das wäre das gefundene Fressen gewesen für die Medien, wenn man sagen hätte können, jetzt gehts gegen die Intellektuellen, gegen die Literatur, gegen die Filme, oder aber das Reiserecht würde eingeschränkt - es passierte aber nicht. So steht also dieser "autoritäre Kurs" auf relativ kleinen, dünnen Beinen da. Ein Beispiel ist das NGO-Gesetz, über das man sich aufgeregt hat: Was ist denn passiert? Ich habe selbst eine deutsche NGO in Russland geleitet. Wir sind nie tangiert worden. Ab 2000 mussten wir uns den russischen Sozial- und Arbeitsgesetzen unterwerfen. Seitdem gab es überhaupt keine Probleme in der Arbeit. Wir konnten einladen, wen wir wollten, über alle Themen diskutieren: Jugend, Tschetschenien, Militärdienst, alles Mögliche.
Zur Person
Peter W. Schulze ist Politikwissenschafter an der Universität Göttingen. Der 67-Jährige, der sich unter anderem mit der Transformation postsowjetischer Gesellschaften beschäftigt, leitete von 1992 bis 2003 das Moskauer Büro der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung, die der SPD nahe steht.