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Szenen aus dem Rotlichtmilieu

Von Kerstin Viering

Wissen
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Schnecken führen mit und ohne Haus ein bizarres Sexleben.
© corbis

Die Fortpflanzung von Schnecken ist variantenreich - und ärgerlich für Gärtner.


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Berlin. Das Vorspiel scheint kein Ende zu nehmen: Streicheleinheiten, Sich-Umschlingen, körperliche Nähe in den unterschiedlichsten Stellungen. Bis es wirklich zur Sache geht, kann es ein paar Stunden dauern. Die abwechslungsreichen Szenen, die sich im Frühling und Sommer vor ihrer Haustür abspielen, treiben freilich etliche Gärtner an den Rand des Wutausbruchs - weil das Ganze letztlich zu weiteren Generationen gefräßiger Gegner führt, die an Blumen und Gemüse knabbern.

Schnecken können sich in günstigen Jahren kräftig vermehren - ein Ziel, das sie manchmal auf bizarren Wegen erreichen. Ihr komplexes Paarungsverhalten stellt Biologen noch immer vor interessante Rätsel. Heike Reise und ihre Kollegen vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, interessieren sich zum Beispiel für landlebende Nacktschnecken. Jedes Jahr fangen sie vor allem Ackerschnecken der Gattung Deroceras ein, die selbst für Schneckenverhältnisse ein reichlich exzentrisches Sexualleben führen. Im Görlitzer Labor hocken die Tiere erst einmal ein paar Tage alleine in ihren Behältern. "Nach etwa einer Woche sind sie bereit, sich zu paaren", sagt die Biologin.

Und dann sind die Forscher mit der Kamera live dabei. Sie setzen jeweils zwei Tiere zusammen und nehmen sämtliche sexuellen Handlungen aus verschiedenen Perspektiven auf Video auf - stilecht bei Rotlicht. "Das können die Schnecken nicht sehen, sodass sie nicht gestört werden", erläutert Heike Reise. Ohne solche Aufnahmen lässt sich das Paarungsspiel der Weichtiere kaum untersuchen. Denn obwohl Schnecken sonst nicht für ihre Geschwindigkeit bekannt sind, legen sie in Sachen Sex mitunter ein rasantes Tempo an den Tag. Das Vorgeplänkel mag sich über Stunden hinziehen, doch der eigentliche Akt lässt sich bei einigen Deroceras-Arten kaum mit bloßem Auge verfolgen: Plötzlich schießt bei beiden Partnern fast explosionsartig der Penis hervor und es dauert nicht einmal eine Sekunde, bis die Zwitter ihr Sperma ausgetauscht haben. Zu schnell für neugierige Wissenschafter-Augen. Gut, dass man Videoaufnahmen in Zeitlupe abspielen kann.

Artspezifische Eigenheiten

Was genau die Sexfilme aus der Weichtierwelt zeigen, hängt stark von den Darstellern ab. Von den etwa hundert derzeit bekannten Ackerschnecken-Arten scheint jede ihre ganz eigenen Vorlieben entwickelt zu haben. "Diese Verhaltensweisen sind so typisch, dass man die verschiedenen Arten daran unterscheiden kann", erläutert Heike Reise. Das ist gerade bei Ackerschnecken interessant, die sich nur schwer unterscheiden lassen, denn Größe und Farbe können auch innerhalb derselben Art stark variieren. Mehr Aufschluss gibt ein Blick auf den Penis, der je nach Art unterschiedlich gebaut ist, aber auch das ist oft nicht eindeutig. So hilft den Forschern die Analyse des Paarungsverhaltens, um die Verwandtschaftsverhältnisse unter Ackerschnecken zu entwirren. Reise und ihr Team haben auf diese Weise schon mehrere bisher übersehene Arten entdeckt. Bei einem dieser Fahndungserfolge geht es um eine inzwischen fast weltweit verbreitete Ackerschnecke, die sich als Schädling in Gemüsekulturen unbeliebt gemacht hat. Wissenschafter hatten diese kriechenden Kosmopoliten lange für Vertreter der Mittelmeer-Ackerschnecke Deroceras panormitanum gehalten. Bis Heike Reise und ihre Kollegen feststellten, dass sich das Paarungsverhalten von Süditalienern und Kosmopoliten massiv unterscheidet. Nun heißt der Schädling Deroceras invadens.

Als Nächstes wollen die Schneckenberg-Forscher anhand von genetischen Markern untersuchen, ob die gefräßigen Gemüsevertilger weltweit alle zu dieser neuen Art gehören. Hinter der bekannten Schadschnecke könnten sich durchaus noch mehr bisher unentdeckte Arten verbergen. Heike Reise und ihre Kollegen erhoffen sich von ihrer Arbeit auch Hinweise darauf, wie sich diese Schädlinge ausbreiten, warum sie so erfolgreich sind und wie man sie vielleicht besser bekämpfen kann. Und sie wollen herausfinden, ob die strengen Kontrollen und drastischen Bekämpfungsmaßnahmen sinnvoll sind, mit denen die USA eine weitere Einschleppung der kriechenden Kosmopoliten verhindern wollen. Wenn in Nordamerika schon das gleiche gefräßige Kollektiv unterwegs ist wie in Europa, kann man sich den teuren Aufwand vielleicht auch sparen.

In erster Linie treibt das Staunen über die bizarren Erfindungen der Natur viele Schneckenforscher an. Kopfschüttelnd stehen auch Experten vor Phänomenen wie dem Liebesspiel des Tigerschnegels Limax maximus. Diese 10 bis 20 Zentimeter langen Nacktschnecken seilen sich bei der Paarung gemeinsam an einem Schleimfaden ab. Kopfüber hängen die beiden Partner von einem Baum und verdrehen ihre Körper ineinander. Dann stülpen sie ihre schlauchartigen Genitalien aus, winden sie spiralförmig umeinander und übertragen das Sperma von Spitze zu Spitze. Anschließend ist es gar nicht so einfach, sich wieder zu trennen. Bei anderen Arten kann das zu einer noch größeren Herausforderung werden. Zum Beispiel bei einem größeren Verwandten des Tigerschnegels, dem Schwarzen Schnegel Limax cinereoniger. Bis diese Tiere ihre etwa zehn Zentimeter langen Geschlechtsteile wieder auseinandergewickelt haben, kann es bis zu zwanzig Minuten dauern.

Drastische Maßnahmen

Nordamerikanische Bananenschnecken der Gattung Ariolimax schaffen es mitunter nicht, ihre Genitalien wieder aus der weiblichen Geschlechtsöffnung zu befreien. Dann greifen mindestens zwei Arten dieser Weichtiere zu einer drastischen Maßnahme: Sie beißen sich den Penis entweder selbst ab oder lassen ihn vom Partner abknabbern - und führen ihr Leben nicht mehr als Zwitter, sondern als Weibchen weiter. Solche Amputationen wurden auch beobachtet, ohne dass unentwirrbare Verwicklungen die Tiere dazu gezwungen hätten. Was hinter diesen Verstümmelungen steckt, weiß bisher niemand.