Italien gerät bei der Aufnahme von Flüchtlingen an seine Grenzen.
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Ventimiglia/Mailand/Rom. Sie gehen hier nicht weg. Auch am Montag nicht. Es war der fünfte Tag, an dem die Flüchtlinge aus Eritrea, dem Sudan, Kongo und Somalia auf den Felsen vor Ventimiglia verharrten. Nicht auf Lampedusa, nicht in einem der überfüllten Auffanglager in Sizilien oder Apulien, sondern auf den rauen Felsen der eleganten italienischen Riviera. Vor sich, in ein paar hundert Meter Entfernung, die azurblaue Küste Frankreichs - und eine Hundertschaft französischer Gendarmen.
Es sind bloß einige Dutzend Männer, die hier nur unter dem Schutz weißer Bettlaken oder silbern glitzernder Thermodecken auf die Weiterreise nach Frankreich warten. Doch längst sind die Unbeugsamen von Ventimiglia zu einem Symbol geworden für ein Europa, das an der immer dringender werdenden Flüchtlingsfrage scheitert.
Frankreich hat trotz des Schengener Abkommens strenge Grenzkontrollen zeitweise wieder eingeführt, auch Deutschland und Österreich überwachten in den Tagen des G7-Gipfels in Elmau ihre Grenzen stärker. Die Maßnahmen, die am Montag enden sollten, dienten auch zur Durchsetzung des umstrittenen Dublin-II-Abkommens. Demnach müssen sich Flüchtlinge im Land ihrer Ankunft in der EU registrieren. Davon sind vor allem Italien und Griechenland betroffen.
Am Montag berieten die EU-Innenminister in Brüssel zum Thema Migration. Auf eine feste Quotenregelung zur Aufnahme von Flüchtlingen konnten sich die EU-Staaten bislang nicht einigen.
Und so kam es zu den Bildern, die vor allem in Italien für Unverständnis und Unmut sorgen: Möglicherweise mehrheitlich asylberechtigte Flüchtlinge, die in Norditalien auf Felsen vor dem offenen Meer ausharren; mit Afrikanern überfüllte Bahnhöfe von Rom über Mailand bis Bozen. Immer mehr provisorische Auffanglager in italienischen Städten, mit wild kampierenden Flüchtlingen in überfüllten Parkanlagen.
In Rom haben Militär und Rotes Kreuz ein Zeltlager in der Nähe des Bahnhofs Tiburtina aufgeschlagen. Am Mailänder Hauptbahnhof wurden die Migranten samt Frauen und Kindern erst in durchsichtigen Pavillons aus Plexiglas untergebracht, bevor die Turnhalle einer Schule bereitgestellt wurde. Auch über die sogenannte Balkan-Route drängen die Menschen ins italienische Friaul, das sich bislang vor dem Ansturm sicher wähnte.
Offiziell sollen sich derzeit 76.000 Flüchtlinge in italienischen Auffanglagern befinden, die für nur 25.000 Menschen ausgelegt sind. 54.000 Neuankömmlinge wurden allein dieses Jahr in Italien gezählt.
Auch die Migranten in Ventimiglia haben die Macht der von ihnen geschaffenen Bilder registriert. Einige von ihnen drohten, sich ins Wasser zu stürzen, andere sollen in einen Hungerstreik getreten sein. Am Wochenende marschierte eine Handvoll französischer Neonazis an der Grenze auf, um den Flüchtlingen ihre Unerwünschtheit noch offenkundiger zu machen. In Frankreich und Italien nutzen fremdenfeindliche Parteien wie Front National oder Lega Nord die Situation für ihre Zwecke aus. Lega-Chef Matteo Salvini schreibt auf Facebook Kommentare wie: "Nicht nur Krätze, jetzt auch Malaria im Bahnhof von Mailand!"
Innenpolitisch schwelt ein Streit über die Unterbringung der Flüchtlinge. Während der Gouverneur der Lombardei, Robert Maroni (Lega Nord), den Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, Strafen androht, verspricht Ministerpräsident Matteo Renzi (Demokratische Partei) Prämien für aufnahmewillige Kommunen.
Renzi fordert seit Monaten eine Einigung der EU-Staaten und drohte zuletzt mit einem "Plan B". Was darunter genau zu verstehen sein soll, definierte der Premier nicht genau. Die Sorge der EU-Partner, Italien könnte künftig gar keine Flüchtlinge mehr registrieren und so deren Weiterreise erleichtern, ist längst politisches Kapital.
Laut Dublin-II müssen Ankömmlinge im EU-Staat ihrer Ankunft registriert werden und dort auch bleiben. Viele Flüchtlinge umgehen die Kontrollen und gelangen in andere EU-Länder.
Laut UNHCR kamen heuer bisher 103.000 Menschen über das Mittelmeer in die EU, die meisten aus Libyen. 54.000 von ihnen erreichten Italien, 48.000 Griechenland. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Eritrea, Somalia, Syrien und Nigeria. 2014 überquerten mehr als 200.000 Flüchtlinge das Mittelmeer; 3419 Menschen starben dabei.