Auf Deutsche kommen Einsparungen in der Höhe von 50 Milliarden Euro zu. | Kosten für die Arbeitsmarktreform Hartz IV ufern aus. | Berlin. Zwei Szenen einer noch nicht geschlossenen Ehe: Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU), einer der koalitionären Unterhändler, spricht angesichts der Haushaltslage vom "Heulen und Zähneklappern". Sein Gegenüber, der designierte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) wirft der Union "eine systematische Organisation des Entsetzens" über die Haushaltsnöte in Bund und Ländern vor. Fakt ist: In den nächsten beiden Haushaltsjahren wird allein der Bund rund 50 Milliarden Euro einsparen und kürzen müssen. (Das entspricht beinahe dem Gesamtvolumen des österreichischen Bundesbudgets.)
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Zweite Szene: Der noch amtierende SPD-Arbeitsminister Wolfgang Clement spricht in einem Report seines Ministeriums zur Arbeitsmarktreform "Hartz IV" offiziell von "Mißbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat". Jeder fünfte erschleiche sich auf zum Teil kriminelle Weise staatliche Leistungen, auf die er gar keinen Anspruch habe. Töne, für die ein CDU-Politiker sofort öffentlich hingerichtet worden wäre.
Geprügelt wird Clement folgerichtig vor allem von den eigenen Parteigängern. Thea Dückert vom Noch-Koalitionspartner Grüne nennt das eine "Steilvorlage für eine billige Hetze gegen Leistungsbezieher" und "eine ungeheuerliche Entgleisung". Fakt ist: Mindestens zehn Prozent der Hartz-IV-Empfänger bekommen zumindest teilweise zu unrecht staatliche Zuwendungen. Die jährlichen Kosten betragen nicht wie berechnet 14 sondern 26 Milliarden.
Peter Hartz - der Unglücksrabe
Die Union hatte schon im Wahlkampf an Hartz IV kritisiert: "Gut gemeint, nur handwerklich schlecht gemacht." Diese Kritik bewahrheitet sich nun. Im Lichte der jetzt bekannt gewordenen Fakten entpuppt sich das jähe Ende der Ära Schröder mit den vorgezogenen Neuwahlen als "Flucht nach vorne im letztmöglichen Moment".
Aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident stammt die persönliche Bekanntschaft Gerhard Schröders mit dem VW-Manager Peter Hartz. Der Aufsteiger Hartz, Sohn eines saarländischen Hüttenarbeiters, und der fast gleichaltrige Aufsteiger Schröder, Sohn eines niedersächsischen Kirmesarbeiters, hatten beide ihre Laufbahn im zweiten Bildungsweg gestartet und saßen nun beide in Leitungsgremien des Volkswagen-Konzerns.
Als Personalvorstand des Wolfsburger Autogiganten hatte Hartz schon anfangs der Neunziger-Jahre von sich reden gemacht, unter anderem mit flexiblen Arbeitszeitmodellen. Einer größeren Öffentlichkeit wurde er, besser gesagt: sein Name, erst bekannt, als Gerhard Schröder ihn im Wahlkampf 2002 zum Chef einer Kommission ernannte, die ein Reformmodell für die deutsche Arbeitsmarkt-Politik entwickeln sollte.
Die ziemlich "neo-liberal" zusammengesetzte 15köpfige Arbeitsgruppe legte einige Wochen vor der Wahl ihr Maßnahmenpaket vor, das wie die Kommission den Namen "Hartz" bekam und etappenweise umgesetzt wurde - daher die beigestellte römische Ziffer.
Zuletzt kam "Hartz IV" - Schröders Waterloo
Am 1. Jänner 2005 trat das unter "Hartz IV" bekannte Maßnahmenpaket in Kraft. Die wichtigste Änderung: Es beendete das bisherige Nebeneinander von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Alle erwerbsfähigen Menschen, die für ihren Lebensunterhalt staatliche Leistungen brauchen, haben seither Zugang zu den gleichen Angeboten. Wurde die Arbeitslosenhilfe bisher vom Bund bezahlt und die Sozialhilfe von den Kommunen, so mußten beide Körperschaften ab sofort zusammenarbeiten - eine erhebliche Umstellung der Bürokratie.
Neue Perspektiven brachte die Reform vor allem den ehemaligen Empfängern von Sozialhilfe. Nicht immer zur großen Freude der Betroffenen, denn von nun an mußten sie dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen, sich also vermitteln lassen. Dies hatte Auswirkungen auf die Arbeitslosenstatistik. Nicht etwa, weil plötzlich so viele Arbeitsplätze zur Verfügung gestanden wären, sondern weil doch viele auf staatliche Leistungen verzichteten, bevor sie sich hätten "bis aufs Hemd" offenbaren müssen.
Für diejenigen aber, die bisher das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld erhielten, bedeutete der Wechsel zum steuerfinanzierten Hartz-IV-Geld schmerzhafte Einschnitte: Empfindlich weniger Geldleistungen (rd. 340 Euro monatlich), viel weiter gefaßte Zumutbarkeitsgrenzen, detaillierte Zwangsangaben über alle Vermögenswerte der Verwandtschaft einschließlich Muttis Spargroschens im Marmeladenglas.
Der Zugriff selbst auf die angesparten Beträge für die eigene Alterssicherung, die Kürzung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfe-Niveau und andere Härten hatten nun aber die Parteilinke in der SPD auf den Plan gerufen. Man war Schröders "Neuer Mitte" schon mit Skepsis begegnet. Man hatte die "Agenda 2010" nur noch aus wahltaktischen Gründen hingenommen. Hartz IV jedoch brachte das linke Herz zum Rasen und das Faß zum Überlaufen.
Die Umfragewerte waren auf nie geahnte Tiefen gesunken, in den fünf neuen Ländern weidete die PDS ehemalige SPD-Gründe ab, im Saarland meldete sich Lafontaine, alle Landtagswahlen gingen verloren, "ewige Hochburgen" der SPD fielen der CDU in die Hände, zuletzt das symbolträchtige Nordrhein-Westfalen mit dem "Ruhrpott" der Kumpels.
In gewissem Sinne läutete also "Hartz IV" das Ende der Ära Schröder ein. Gerhard Schröder ist mittlerweile ein scheidender Bundeskanzler, bis er - voraussichtlich am 22. November - von Angela Merkel abgelöst werden wird. Peter Hartz ist inzwischen zurückgetreten, weil die Staatsanwälte gegen ihn in Zusammenhang mit der VW-Korruptionsaffäre ermitteln.
Und Hartz IV hat auch nicht die 2 Millionen neuer Arbeitsplätze gebracht, die Schröder versprochen hatte. Zu allem Überdruß erweist sich das Reformpaket außerdem noch als ein Milliardengrab für Steuergelder: Gegenüber allen Ankündigungen und Planungen kostet es mit 26 Milliarden Euro jährlich fast doppelt so viel wie ursprünglich vorgesehen. So enden Legenden.
Knackpunkt "Bedarfsgemeinschaften"
Einen unerwarteten Effekt brachte die Hartz-IV-Reform: Statt Langzeitarbeitslose zur Annahme auch gering bezahlter Tätigkeiten zu animieren, hat sie manchem Jugendlichen die erste eigene Wohnung beschert. Ein jugendlicher Arbeitsloser muß nur aus der elterlichen Wohnung ausziehen, eine eigene "Bedarfsgemeinschaft" gründen (also mit seiner gleichfalls arbeitslosen Freundin zusammenziehen), dann bekommt er nämlich neben dem Arbeitslosengeld auch noch Miete und Heizkosten vom Staat bezahlt.
Hartz IV beruht darauf, daß Familien und Lebensgemeinschaften füreinander im Notfall aufkommen, Eltern für ihre Kinder, Männer für ihre Partnerinnen. Erst wenn diese Quellen ausgeschöpft sind, tritt subsidiär der Staat für den Bedürftigen ein.
Soweit die Theorie. Die Praxis wird in Clements Report geschildert: Manchmal gibt es anonyme Hinweise, daß z.B. eine Hilfsempfängerin mit einem gut verdienenden Partner zusammenlebt. So geschehen in Mannheim, wo der Lebensgefährte bei einem morgendlichen Kontrollbesuch Anfang März fluchtartig in Unterhosen auf den Balkon flüchtete und in der Kälte zitterte. Als die Kontrolleure ihn dort entdeckten, beteuerte er: "Ich bin ein Frischluftfanatiker".
Die notwendige Reform der Reform
Nun hat sich auch der "Ombudsrat für die Hartz-IV-Reformen" für eine Reform der Reform und eine deutlich stärkere Kontrolle der Arbeitslosengeld-II-Empfänger ausgesprochen. Anders lasse sich der zunehmende Mißbrauch nicht eindämmen, glaubt der Vorsitzende Hermann Rappe. Dagegen könne niemand etwas sagen, "schließlich geht es um Steuergelder". Und Rappe ist kein Neo-Liberaler, sondern SPD-Politiker und Gewerkschafter.
Jenseits aller politischen Rhetorik scheinen sich die Großkoalitionäre in den Verhandlungen anzunähern. Zur Eindämmung der Kosten will die Union in Hartz-IV-Familien die gegenseitige Unterhaltspflicht von Eltern und Kindern wieder einführen. Der scheidende Wirtschaftsminister Clement verspricht härtere Kontrollen. So wollen Union und SPD gemeinsam versuchen, der Kostenexplosion Herr zu werden. "Nein, wir wollen nicht - wir müssen!" schließt der künftige Innenminister Wolfgang Schäuble.
Späteres Pensionsalter steht in Berlin zur Diskussion