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Eigentlich, so sagte Ferenc Szijj einmal, wäre er ja gerne Lokführer geworden. Seine schlechten Augen hätten ihn aber dazu gezwungen, sein Einkommen unter schlechten Lichtverhältnissen zu sichern: mit dem Schreiben. Ob bewusst oder nicht, mit seinen Gedichten und Prosaskizzen verbindet der ungarische Autor seinen Berufswunsch mit seiner Einkommensquelle. Seine lakonischen Momentaufnahmen der ihn umgebenden Wirklichkeit lassen den Leser wie einen Fahrgast in einem Zug durch die Seelenlandschaft des Zugführers gleiten. Unser Blick fällt immer wieder auf Details, und ab und an registrieren wir eine grundlegende Veränderung in unserer Wahrnehmung.
Die einzelnen Stücke Szijjs sind wie Bahnhöfe, durch die der Leser sich seinem Reiseziel nähert. Dazwischen tut sich eine Welt auf, die in nichts außergewöhnlich zu sein scheint: normale Felder, normale Straßen, normale Kreuzungen. Doch mit Fortdauer der Lektüre erkennen wir das Besondere an ihr. Weil wir beginnen, diese Welt mit den Augen des Autors zu sehen. Der sie vielleicht gerade deshalb auf unorthodoxe Weise betrachtet, weil seine Sehschärfe zu wünschen übrig lässt.
Dabei hat es Szijj ganz und gar nicht eilig. Bedächtig hält er in jedem Bahnhof seines Gedächtnisses, bringt den Zug mitunter auch auf offener Strecke einfach zum Stehen. Denn es ist dieses Innehalten, das es erst ermöglicht, den Dingen auf den Grund zu gehen, vom Sehen zum Verstehen zu gelangen. Und so ist Szijjs "Sturzlicht" auch kein Intercity, der sich mit rasender Geschwindigkeit durch die Landschaft pflügt, es ist vielmehr ein Bummelzug auf einer Nostalgiefahrt, die auch unserer eigenen Erinnerung neue Flügel verleiht. Das vermeintlich Gewöhnliche, Unspektakuläre erhält mit einem Mal eine nur ihm eigene persönliche Note und strahlt eine Faszination aus, die uns vielleicht nie aufgefallen wäre, wenn Szijjs Zug nicht an jeder Milchkanne hielte. Und so endet die vermeintlich prosaische Fahrt in poetischem Abendglühen.
Ferenc Szijj, 1958 im westungarischen Szombathely geboren, gilt als der große Einzelgänger unter den ungarischen Autoren von heute. Vielleicht errangen seine Werke gerade darum in seiner Heimat Kultstatus. Szijj darf mittlerweile auf zahlreiche Preise und Auszeichnungen zurückblicken, auf den Tibor-Dery-Preis ebenso wie auf den Attila-Joszef-Preis, und man kann sagen, es wurde wirklich Zeit, die faszinierenden Textschöpfungen dieses Meisters der Lakonie auch dem deutschsprachigen Publikum zu erschließen.
Ferenc Szijj: Sturzlicht. Droschl-Verlag, Graz 2005, 72 Seiten