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Tadschikistans vergessene Kinder

Von Michael Schmölzer aus Tadschikistan

Politik

Behinderte gelten als Schande und werden isoliert. | Hilfswerk Austria sorgt für Betreuung in Tageszentren. | Duschanbe. Wird in Tadschikistan ein behindertes Kind geboren, ist das ein Fluch. Das Land ist bitterarm, die Menschen sind einem brutalen Existenzkampf ausgesetzt. Ein Kind, das nichts hört, nichts sieht oder nicht redet, nicht zu Gehen beginnt oder sich geistig nicht entwickelt, kann deshalb nur eine Strafe Allahs sein. Denn es muss zwar versorgt werden, trägt aber später nicht zum Einkommen der Familie bei und wird die Eltern nicht erhalten. Zudem schadet es seinen weiblichen Geschwistern. Deren soziale Chancen sinken, denn kaum ein Mann möchte in eine Familie einheiraten, in der das Erbgut nicht in Ordnung ist.


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Die Konsequenzen sind fatal. Entwickelt sich ein Kind nicht so, wie es soll, wird es im schlimmsten Fall vom Familienoberhaupt verstoßen und in einer staatlichen Aufbewahrungsanstalt versteckt. Oder es vegetiert Zuhause vor sich hin, erhält dort Nahrung, wird aber darüber hinaus nicht beachtet. "Dass behinderte Kinder spezielle Bedürfnisse haben und gefördert werden müssen, klingt für tadschikische Ohren äußerst ungewöhnlich", berichtet Brigitte Stöppler, die im Kaukasus und in Zentralasien für das Hilfswerk Austria Projekte betreut und die Verhältnisse genau kennt.

Chance auf einenormale Zukunft

Eines der Hilfswerk-Projekte ist das Tageszentrum "Oftobak" in Gissar, ganz in der Nähe der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Dort sind etwa 50 Kinder mit verschiedenen Behinderungen untergebracht. Die Kleinen werden mit dem Bus von Zuhause abgeholt, die Betreuer pflegen engen Kontakt zu den Eltern.

Der Kindergarten ist der erste seiner Art in Tadschikistan und ein Beispiel für gelungene Entwicklungsarbeit. 2006 von Österreichern gegründet kümmert sich mittlerweile eine lokale NGO um das Projekt, das jetzt auch Mittel vom tadschikischen Sozialministerium erhält. Im "Oftobak" arbeiten Lehrer, Physiotherapeuten, Logopäden, Audiologen und eine Psychotherapeutin - und das sehr erfolgreich, wie die Direktorin der Einrichtung, Fotima Kurbonowa, erzählt. Immerhin sei es bereits gelungen, elf Kinder mit weniger starken Behinderungen auf normale Schulen zu schicken. Diese Kleinen haben zumindest die Chance auf eine normale Zukunft. Allerdings: "500 Kinder in der Umgebung müssten wir behandeln, 50 können wir aufnehmen", meint Kurbonowa. Die, die kein Glück haben, müssen weiterhin in ein staatliches Kinderheim.

Derartige Anstalten gibt es mehrere in Duschanbe, wir - eine Gruppe von Journalisten - dürfen eine besichtigen. Der Direktor sitzt hinter einem Schreibtisch und vor einem großen Portrait, das Tadschikistans allmächtigen Staatschef Emomalii Rahmon abbildet. Mit unfreundlicher Miene blättert er in seinen Unterlagen, nur zögerlich gibt er Auskunft. Das Heim habe die Kapazität für 100 Kinder, aktuell seien 68 in seiner Obhut, referiert er, es seien Waisen und Behinderte darunter. Wir bekommen die Kinder, die im Erdgeschoss untergebracht sind, zu sehen. Sie sitzen in zwei Reihen vor einem Fernseher, der nicht läuft. Später erfahren wir, dass die Behinderten im ersten Stockwerk versteckt sind. Sie würden dort in ihren Betten liegen, keiner kümmere sich groß um sie, hören wir. Eine tadschikische Mitarbeiterin des Hilfswerks klärt uns auf, dass diese Vernachlässigung viel mit 70 Jahren Sowjet-Herrschaft, denen Tadschikistan ausgesetzt war, zu tun hat. Dogma war damals, dass es im Arbeiter- und Bauernparadies keine Menschen mit Behinderungen gebe. Deshalb wurden 1980 bei den Olympischen Spielen in Moskau die Paralympics - wo Menschen mit Handicaps antreten - abgesagt.

Dass es in Tadschikistan viele Kinder gibt, um die sich niemand kümmert, liegt auch daran, dass hier von 7 Millionen Menschen eine Million in Russland arbeiten. Als Zentralasiaten rassistischen Übergriffen ausgesetzt verdingen sie sich vor allem als Schwarzarbeiter im Baugewerbe. Ohne die Geldüberweisungen aus dem Ausland würden viele tadschikische Familien nicht überleben. Die ökonomische Situation im Land ist katastrophal, es gibt so gut wie keine Industrie, in den wenigen fruchtbaren Gebieten im Süden wird Obst, Gemüse und vor allem Baumwolle angebaut. Auf den überdüngten Felder arbeiten hauptsächlich Frauen - und Kinder. Letztere werden deshalb gerne eingesetzt, weil sie sich bei der Ernte nicht bücken müssen. Wären sie größer, würden sie sich den Bewegungsapparat ruinieren.

Akkordarbeit auf Baumwollfeldern

Auf einem Baumwollfeld bei Vose unweit der Grenze zu Afghanistan treffen wir auf einige Landarbeiterinnen. Ihre Hände fliegen über die pestizidverseuchten Pflanzen, die jüngste Pflückerin ist nicht älter als zwölf Jahre, sie hat ihre Kindheit längst hinter sich gelassen und für Gespräche wenig Zeit. Sie muss sich beeilen, denn sie wird nach geernteter Menge bezahlt. Pro Kilo bekommt sie 20 Diram, ein paar Euro-Cent. Zehn Kilo würden die Mädchen pro Stunde schaffen, sagt der Vorarbeiter, der daneben steht und nicht arbeitet - eine Behauptung, die wie so vieles in Tadschikistan zweifelhaft erscheint.

Weil in Tadschikistan der Wohlfahrtsstaat nicht existiert, sind neben behinderten Kindern auch alte Menschen ohne Familie nur bedingt überlebensfähig. In Yavan, etwa 70 Kilometer von Duschanbe entfernt, hat das Hilfswerk ein Tagesheim für Pensionisten auf die Beine gestellt. Die Menschen dort wirken um einiges älter als sie tatsächlich sind, sie sind vor allem froh, in Gesellschaft zu sein, sie basteln und sie machen Musik. Ein Mann sitzt im Rollstuhl und werkt an einer Pappschachtel. "Als er zu uns gekommen ist, konnte er nicht sprechen", sagt ein Pfleger, "jetzt geht es ihm besser". Der Invalide, so wird klar, ist Opfer des mörderischen Bürgerkriegs, der von 1992 bis 1997 in Tadschikistan wütete und knapp 100.000 Todesopfer forderte. "Er wurde geschlagen", sagt ein Pfleger, "jetzt kann er nicht mehr gehen. Er ist bei uns, weil er vergessen will."

WissenDas Hilfswerk Austria ist in Osteuropa, Afrika, Asien, Südamerika tätig. In Tadschikistan soll u.a. die Zahl der in Heimen untergebrachten Kinder gesenkt werden. Spendenkonto PSK 90.001.002 "Sozialeinrichtungen Tadschikistan".