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Tag der Entscheidung für Evo Morales

Von WZ-Korrespondentin Susann Kreutzmann

Politik

Ausschreitungen in La Paz mit Toten und Verletzten. | Präsident Evo Morales braucht mindestens 53,7 Prozent Zustimmung. | Volksentscheid gehen zahlreiche Ungereimtheiten voraus. | Sao Paulo. Bolivien steht vor einer neuen Gewaltwelle. Zwei Tote und mindestens 40 Verletzte - das ist die vorläufige Bilanz gewaltsamer Ausschreitungen in dem Andenstaat wenige Tage vor dem von Präsident Evo Morales angesetzten Referendum über seine Amtsenthebung. In der Hauptstadt La Paz kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Minenarbeiter, vermummt und mit Holzlatten bewaffnet, blockierten die wichtige Verbindung nach Cochabamba. Flughäfen sind gesperrt. Die Opposition hat zu einem Hungerstreik aufgerufen. Beobachter befürchten, dass dies erst der Auftakt für eine Welle der Gewalt ist, wie sie das Land seit Jahren nicht mehr erlebt hat.


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Gespaltenes Land

Am Sonntag ruft Morales die Bolivianer an die Urne. Mindestens 53,7 Prozent muss der erste Präsident indianischer Abstammung in dem Andenstaat erreichen, um im Amt bleiben zu können - so viel wie bei der vorgezogenen Präsidentschaftswahl Ende 2005. Auch über die Zukunft von Vizepräsident Alvaro García Linera und von acht der neun Gouverneure, die mehrheitlich der Opposition angehören, wird entschieden. Morales hatte sich mit der Einberufung des Referendums der Opposition gebeugt, die für die wohlhabenden Provinzen im Osten des Landes eine Unabhängigkeit proklamiert hatte.

Bolivien ist seit Jahrhunderten ein gespaltenes Land. In der kargen Hochebene des Altiplano wohnen überwiegend Indigenas. Die Armut beträgt hier bis zu 80 Prozent. Im tropischen und fruchtbaren Tiefland liegen nicht nur die größten Rohstoffreserven des Landes. Die vergleichsweise reichen Provinzen Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija gelten auch als Nahrungsmittelkammer für die anderen Landesteile. Mit einem im Dezember 2007 verabschiedeten Gesetz hatte die Zentralregierung in La Paz eine Umverteilung der Gewinne aus den Rohstoffen verfügt und die Zuwendungen an diese Provinzen verringert, in einigen Gebieten um bis zu 30 Prozent. Mit den Mehreinnahmen will Morales Sozialreformen finanzieren. Zuvor schon hatte der Präsident die Verstaatlichung der Rohstoffvorkommen verfügt. Autonomiebefürworter hatten ihm daraufhin vorgeworfen, eine sozialistische Diktatur nach dem Vorbild Venezuelas errichten zu wollen. Falls die Bürger sich am Sonntag gegen ihren Präsidenten entscheiden, muss Morales binnen 90 bis 180 Tagen Neuwahlen ansetzen.

Morales kann bei der Volksbefragung vor allem auf die Stimmen der armen indianischen Bevölkerung in den Städten und auf dem Land zählen. Neuste Umfragen zeigen eine Zustimmung von 54 Prozent. Damit würde er das Referendum für sich entscheiden. Auch die Gouverneure der abtrünnigen Provinzen können auf ihre Wiederwahl hoffen.

Offenbar hat Morales aber die Widerstandskraft und den Mobilisierungswillen der Autonomiebefürworter unterschätzt. In den um die Unabhängigkeit kämpfenden Provinzen sind Anhänger der Bürgerbewegung und der Oppositionspartei (Podemos) in einen unbefristeten Hungerstreik getreten.

"Ausgang egal"

Dem Volksentscheid gehen zahlreiche Ungereimtheiten voraus. Niemals vor einem solchen Ereignis habe es so viele rechtliche, logistische und administrative Unklarheiten gegeben, sagt der renommierte Politologe Jorge Lazarte. "Das Referendum löst keines der Probleme, die Bolivien hat." Egal, wie der Volksentscheid ausgeht, das Land werde schlechter dastehen als vorher.

Morales hatte die ihm vorschwebende Staatsordnung in einer neuen Verfassung festgeschrieben. Doch die Opposition boykottierte die Abstimmung. Das Verfassungsgericht erklärte daraufhin diese Abstimmung für ungültig. Doch das Urteil wurde nicht umgesetzt, denn von den ehemals fünf Mitgliedern des höchsten Gerichts war nur noch eine einzige Richterin im Amt. Die anderen Richter waren längst zurückgetreten. Nachfolger konnten nicht ernannt werden, weil sich Regierung und Parlament nicht einig waren.