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Tag des Zorns in Moskau

Von Ines Scholz

Europaarchiv

Nur 30.000 Demonstranten zugelassen, Polizei könnte hart durchgreifen.


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Moskau. 35.000 Russen haben sich für heute, Samstag, allein via Facebook und dem russischen Online-Netzwerk Vkontakte in Moskau zu der wohl größten Protestkundgebung seit dem Ende des Kommunismus angekündigt. Gerechnet wird mit mehr als 45.000 Teilnehmern. Während die Wahlkommission das öffentliche Endergebnis verkündet, werden sie am Nachmittag auf dem Bolotnaja-Platz im südlichen Teil des Zentrums Regimekritiker mutig die Wiederholung der Parlamentswahl verlangen, deren Ausgang mit staatlicher Hilfe bis zur Unkenntlichkeit gefälscht worden ist. Ebenfalls auf der Forderungsliste steht die Freilassung von rund 50 politischen Gefangenen, die die Staatsmacht rechtzeitig vor dem Großereignis mit fadenscheidigen Begründungen hinter Gitter gebracht hat. Zu ihnen zählen Symbolfiguren der Anti-Putin-Front - wie der Internet-Blogger Alexej Nawalny und Ex-Vizepremier Boris Nemzow - als auch kritische Journalisten.

Friedlich wird es vermutlich auch diesmal nicht zugehen. Noch-Ministerpräsident Wladimir Putin hat bereits angekündigt, dass Polizei und Sondertruppen hart gegen alle vorgehen werden, die sich nicht an die Vorgaben halten. Etwa die, die auf den Platz strömen, obwohl dort schon 30.000 Menschen sind. Die kremlkritische Oppositionsbewegung Solidarnost, die den Massenaufmarsch angemeldet hat, atmete dennoch auf, dass er überhaupt genehmigt wurde. Bis die Bevölkerung die Kreml-Partei bei der Wahl am Sonntag abgestraft hat, waren Anti-Regierungsversammlungen quasi untersagt. Die Behörden sind aber auch diesmal sehr bemüht, die Demonstration zu unterbinden. Der Chef der Bundes-Gesundheitsbehörde, Gennadi Onischtschenko, empfahl der Bevölkerung, den Bolot-Platz am Samstag zu meiden. "Es ist kalt, und Massenansammlungen auf der Straße begünstigen eine rasche Ausbreitung von Erkältungsviren."

Ursprünglich wollten die Oppositionellen auf dem Platz der Revolution nahe dem Kreml zusammenkommen, dort erlaubten die Moskauer Behörden aber lediglich eine Demonstration von 300 Teilnehmern. Protestiert wird am Samstag nicht nur in Moskau, auch in 13 weiteren Städten sind Kundgebungen gegen die Wahlfarce geplant.

Putins einst sehr populäre Partei Einiges Russland hätte nach Schätzungen von unabhängigen Wahlexperten diesmal etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten - dennoch sprach ihr die Wahlkommission 49,5 Prozent und damit die absolute Mehrheit zu. Bürger dokumentierten tausende Fälle von Wahlbetrug - die Opposition sprach von den schmutzigsten Wahlen seit Sowjetzeiten und überhäufen die Staatsanwaltschaften bereits mit Klagen.

Noch-Ministerpräsident Putin, der von 2000 bis 2008 Präsident war und sich im März erneut für sechs Jahre in den Kreml wählen lassen will, tut sich schwer mit dem wachsenden Selbstbewusstsein Volkes. Vor allem der Mittelstand fordert lautstark Modernisierung statt Korruption und fühlt sich in dem autoritären Spitzelstaat, den Ex-Agent Putin aufgebaut hatte, politisch nicht mehr repräsentiert. Auch hat es Putin trotz der enormen Öl-Einnahmen des Staates nicht geschafft, ein funktionierendes und leistbares Gesundheits- und Bildungssystem aufzubauen. Weite Teile der Bevölkerung können sich kaum ernähren, während die Machtelite in Luxus schwelgt. Die Wut ist groß. Die Machtelite befürchtet einen Volksaufstand. So weit sei es noch nicht, meint Mark Urnow, Politologe an der Moskauer Wirtschaftsuniversität. "Der Siedepunkt ist nicht erreicht." Aber die Regierung müsse sehr aufpassen, dass sie die Ressentiments nicht noch weiter anheize. Eine Verschärfung des Repressionssystems, mit der Putin bisher auf Kritik reagiert hat, sei jedenfalls keine Lösung.