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Tage der Unruhe

Von Veronika Eschbacher

Politik

Bei Ausschreitungen in Kiew stirbt ein Polizist, mehr als 90 weitere werden verletzt. Die umstrittene Dezentralisierungsreform nimmt eine Hürde.


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Kiew/Wien. Es war der schwerste Gewaltausbruch in der ukrainischen Hauptstadt seit der Revolution auf dem Maidan im Vorjahr. Bei Ausschreitungen bei einer Demonstration vor dem Parlament in Kiew kam am Montag ein Polizist ums Leben, mehr als 90 weitere wurden verletzt, mehrere davon schwer. Laut ukrainischem Innenministerium starb der Polizist an einem Granatsplitter. Mehr als 30 Demonstranten wurden festgenommen, darunter die Person, die verdächtigt wird, die Granate geworfen zu haben.

Die Zusammenstöße der Protestierenden - vor allem Anhänger der oppositionellen nationalistischen Partei Swoboda und des Rechten Sektors - begannen nach der Billigung einer umstrittenen Reform für mehr Autonomie in den Rebellengebieten durch das Parlament. 265 Abgeordnete stimmten in erster Lesung für die Verfassungsreform, die von den westlichen Partnerländern Kiews gefordert worden war und mehr Dezentralisierung vorsieht. Sie gilt auch als Voraussetzung für die im Februar in Minsk vereinbarte Autonomie der von den Aufständischen kontrollierten Teile der Gebiete Luhansk und Donezk.

Überfällige Reform

Zum größten Teil ist die Reform, die nun solche Wellen schlägt, eine längst überfällige Erneuerung der lokalen und regionalen Verwaltungsstrukturen der Ukraine. Diese stammen noch aus Sowjetzeiten und wurden seither lediglich kosmetischen Änderungen unterzogen. Bisher werden die 44 Millionen Ukrainer aus Kiew regiert, kaum eine Entscheidung - nicht einmal eine einfache Baubewilligung oder die Erneuerung einer Straße - kann von lokalen Behörden abgenickt werden. Künftig soll die Verantwortlichkeit für lokale Angelegenheiten auch auf der lokalen Ebene angesiedelt sein. Das soll auch die Verantwortlichkeit der lokalen Entscheidungsträger gegenüber den Bürgern stärken und durch mehr Transparenz Korruption hintanhalten. Dazu werden unter anderem die Finanzbeziehungen zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen neu gegliedert und die Kompetenzen etwa der Gemeindeparlamente erweitert.

Umstrittener Sonderstatus

Gleichzeitig sieht der Gesetzesentwurf vor, dass bestimmten Gebieten ein Sonderstatus zugestanden wird. "Das ist der problematische Punkt, der die Tumulte inner- und außerhalb des Parlaments hervorgerufen hat", sagt der Politologe Wiktor Zamjatin vom Kiewer Think-Tank Razumkow Center zur "Wiener Zeitung". Dieser öffnet den prorussischen Separatisten im Kriegsgebiet Donbass das Tor zu mehr Autonomie. Ukrainische Nationalisten lehnen die Pläne ab, sie sehen darin eine schleichende Aufgabe ukrainischen Territoriums. Mehr Autonomie für den Donbass ist aber Teil des Minsker Friedensplans vom Februar.

Auch die Aufständischen im Donbass lehnen die Verfassungsreform ab. Ihnen gehen die Änderungen nicht weit genug, sie fordern größere Selbstbestimmung.

Dabei liegt ohnehin noch viel rund um den Sonderstatus im Unklaren, sagt Zamjatin. Es sei weder geklärt, wie die Regionen mit Sonderstatus bestimmt werden sollen, noch, wie der Sonderstatus konkret ausgestaltet sein wird. Das führe zu einer ganzen Bandbreite an Mutmaßungen und Spekulationen, sagt Zamjatin.

Koalitionsparteien dagegen

Bemerkenswert fanden Beobachter zudem das Abstimmungsverhalten im Parlament. Immerhin stimmten drei der fünf Parteien der Regierungskoalition - darunter die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko - gegen die Reform, der Oppositionsblock (ehemalige Partei der Regionen des Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch) hingegen dafür. "Die drei Fraktionen der Koalition haben heute eher mit Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen im Oktober abgestimmt", sagt Zamjatin. Die Regierungskoalition sieht er deswegen nicht in weniger Turbulenzen, als bisher: "Diese Koalition war schon von Anfang an in Gefahr."

Ob das Dezentralisierungsgesetz tatsächlich durchkommt, ist keineswegs sicher. Während in der ersten Lesung die einfache Mehrheit von 226 Stimmen reichte, braucht es zur Verabschiedung in zweiter Lesung die Verfassungsmehrheit von 300 Stimmen. Die nächste Abstimmung ist für Dezember angesetzt.

Jedes Sonderstatus-Gesetz würde aber auch erst nach Einhaltung von Waffenstillstand und Gefangenenaustausch in Kraft treten. Diese Reihenfolge ist in den Minsker Vereinbarungen vorgesehen. Davon ist man aber weit entfernt, täglich gibt es Gefechte im Osten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich am Montag offen für ein baldiges Gipfeltreffen zur Ukraine-Krise.