Mursi spricht von einem "Tagesanbruch für ein neues Ägypten".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kairo. An Pathos fehlt es der Rede Mohammed Mursis nicht, als er nach der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses zur Verfassung im staatlichen Fernsehen zu seinen Landsleuten spricht. Es sei ein historischer Tag, Ägypten habe eine "freie Verfassung". Diese hätten nicht Könige oder Präsidenten gemacht, sondern das Volk selbst. Das Verfassungsreferendum sei "transparent und unter voller Beobachtung der Zivilgesellschaft und der Justiz" abgehalten worden. Sie sei ein "Tagesanbruch für ein neues Ägypten". Dass dies nicht alle Ägypter so sehen, räumt Mursi ein: Ein respektabler Teil der Bevölkerung habe gegen die neue Verfassung gestimmt. Dies nehme er zur Kenntnis und werde nun "alle Anstrengungen unternehmen, um die ägyptische Wirtschaft anzukurbeln". Dazu wolle er in einem ersten Schritt die Regierung umbilden. Einen Termin hierfür nennt er nicht, ebenso wenig die Ressorts, die er umzubilden gedenkt. "Ich wiederhole meinen Aufruf an alle politischen Parteien und Kräfte, sich am Dialog zu beteiligen."
Acht Tote, 700 Verletzte
Nach den blutigen Auseinandersetzungen um die Verfassung im Vorfeld des Referendums ist ein nationaler Dialog auch dringend nötig. Acht Tote und über 700 Verletzte haben die Kontroversen gefordert. Mit seinen Dekreten, die die Justiz und große Teile der Gesellschaft, vor allem aber die Protestbewegung gegen ihn aufbrachte, hat der Präsident die Nation gespalten wie nichts vordem. Das Referendum geriet zur Abstimmung für oder gegen Mursi selbst. Dabei müssten alle an einem Strang ziehen, um Ägyptens Wirtschaft endlich auf die Beine zu helfen. Die Geldreserven der Zentralbank leiden seit Monaten unter chronischer Schwindsucht, das ägyptische Pfund hat einen Tiefststand seit 2004 erreicht. Viele Ägypter heben derzeit ihre Guthaben von den Konten ab und kaufen Dollar oder Euro dafür. Aus Angst vor Kapitalflucht hat die Regierung verfügt, dass künftig nur maximal 10.000 US-Dollar außer Landes mitgenommen werden dürfen. Von den Versprechen, er werde binnen 100 Tagen seiner Amtszeit den Hunger bekämpfen, das Verkehrschaos bändigen und den Müll beseitigen lassen, hat der Präsident auch nach sechs Monaten im Amt nichts erfüllt. Mursi räumt ein, dass es in der Vergangenheit Fehler gegeben habe. Aber: "Gott weiß, dass ich jede Entscheidung zur Ehre Gottes und des Landes treffe."
"Verrat an der Revolution"
Doch die Opposition denkt gar nicht daran, sich mit einem Präsidenten an einen Tisch zu setzen, der "zunehmend diktatorische Züge" annimmt und die "Ideale der Revolution" verrät. Sie hat bereits angekündigt, das Ergebnis der Abstimmung anfechten zu wollen. Auch will sie ihren Kampf gegen die Verfassung fortsetzen, da aus ihrer Sicht die Bürgerrechte nicht ausreichend gewährleistet sind und dem islamischen Recht zu viel Raum gegeben wird.
Die Nationale Heilsfront, das größte Oppositionsbündnis, meldet zahlreiche Regelverstöße und Betrugsfälle während der beiden Referendum-Runden am 15. und 22. Dezember. Mit zwei Tagen Verspätung gab die Wahlkommission in Kairo am Dienstagabend das Endergebnis des Referendums bekannt. Den mehr als 700 ernst zu nehmenden Beschwerden sei gewissenhaft nachgegangen worden. Sie hätten sich aber insgesamt als haltlos herausgestellt. Bei manchen Wahllokalen seien die Stimmen nochmals gezählt, bei anderen sei das Resultat nicht berücksichtigt worden. Am Endergebnis habe dies aber nur marginal etwas verändert. Demnach haben 63,8 Prozent der Wähler mit Ja, 36 Prozent mit Nein gestimmt. Damit sei die alte Verfassung von 1972 aus der Zeit des ermordeten Präsidenten Anwar al-Saddat hinfällig. Da Präsident Mursi das 236 Artikel umfassende Gesetzeswerk noch am selben Abend unterschrieb, ist die Verfassung jetzt bereits in Kraft.
Geringe Wahlbeteiligung
Die eigentliche Überraschung an diesem Urnengang aber ist die Wahlbeteiligung. Nur 32,9 Prozent der mehr als 51 Millionen Wahlberechtigten stimmten über ihre künftige Verfassung ab. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung seit dem Sturz Husni Mubaraks und durchaus mit den Zahlen während seiner fast 30-jährigen Regentschaft zu vergleichen, als die Wähler keine Wahl außer dem Pharao hatten. Im März letzten Jahres, als der damals regierende Militärrat über Verfassungsänderungen abstimmen ließ, beteiligten sich noch 78 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung. Woher kamen dann die langen Schlangen vor den Wahllokalen, wie sie überall gezeigt wurden? Zum einen ist dies wohl durch den Rückstau zu erklären, wenn ein Wahllokal nicht pünktlich öffnete. Zum anderen auch durch die schleppende Abfertigung wegen fehlenden Personals.
Denn einige Richterverbände, wie der Kairoer Richter-Club, hatten eine Verweigerung der richterlichen Aufsicht beschlossen. Doch die Tatsache, dass so gesehen nur rund 20 Prozent der Ägypter für die Verfassung gestimmt haben, lässt auch andere Rückschlüsse zu. Das sei ein Zeichen dafür, dass die Zustimmung für Mursi und die Muslimbrüder bröckelt, kommentieren politische Analysten die geringe Wahlbeteiligung. Es könnten längst nicht mehr so viele Anhänger der Islamisten mobilisiert werden wie in den vorangegangenen Wahlen. Die in zwei Monaten stattfindenden Parlamentswahlen werden es zeigen. Falls die Opposition es schafft, mit einer Stimme zu sprechen, werde sie eine reelle Chance haben, ein Gleichgewicht zu den Islamisten zu stellen.
Wissen
Die neue Verfassung wendet sich vom Präsidialsystem ab und teilt die Kompetenzen gleichmäßiger zwischen Präsident und Parlament auf. Die Amtszeit des Präsidenten wurden von sechs auf vier Jahre verkürzt mit nur einmaliger Wiederwahl. Das Staatsoberhaupt verliert Kompetenzen wie die Ernennung von Parlamentsabgeordneten oder den Erlass von Notstandsmaßnahmen und Dekreten mit Gesetzeskraft. Er darf das Parlament nur noch nach einem Referendum auflösen. Zudem wird eine umfassendere Versammlungs- und Pressefreiheit garantiert. Verfassungsrang haben erstmals soziale Gerechtigkeit und die Entwicklung des ländlichen Raums. Die "Prinzipien der Scharia" bleiben weiter Hauptquelle der Gesetzgebung.