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Der Philosoph Ernst Bloch, 1885 in Ludwigshafen geboren, kam zur Philosophie, weil er sich für die Welt interessierte. Der Schüler Bloch, von dem es in einem Zeugnis hieß, er trage "ein anmaßendes, unbescheidenes, selbstgefälliges Wesen zur Schau, das mit dem tiefen Stand seiner Kenntnisse durchaus nicht im Einklang steht", versorgte sich mit dem Wissensstoff, den das Leben bot. Was er in sich aufnahm, war die spannungsgeladene Atmosphäre von Ludwigshafen, einer vergleichsweise hässlichen Arbeiterstadt, deren raue Eigenheiten mit dem eher vornehmen Ambiente von Mannheim kontrastierten, das auf der anderen Rheinseite lag und eine andere Welt zu eröffnen schien.
Philosophiehaltige Oase
In einer 1959 erschienenen autobiographischen Skizze mit dem für ihn typischen Titel "Über Eigenes selber" schrieb Bloch: "All das gesteigert, wohl auch übersteigert aufgenommen, wie es zu Jugend und Lautverstärkung passt. Hier die reine Fabrikstadt Ludwigshafen, hässlich, geschichtslos, gegründet durch Chemie, doch voll haariger Burschen, Schiffer, Kneipen wie bei Jack London. Und überm Rhein dann das alte vornehme Theater Mannheims, die barocke Sternwarte, die Schlossbibliothek, diese Oase, philosophiehaltig. Die Bibliothek eröffnete den ganzen spekulativen Farbenbogen von Spinoza bis Hegel; einen jungen Menschen, wie hundert Jahre vorher geboren, nahm er auf. (. . .) Rheinaufwärts der Speyrer, rheinabwärts der Wormser Dom, nah am Neckar Heidelberg. Auch dieses Ensemble von Fabrik und bunter Aura also mochte wohl die Suche nach einer Philosophie nahelegen, einer zwischen Verstand und Aura unzerstückelten."
In den Jahren 1905 und 1906 studierte Bloch in München; die Stadt gefiel ihm: der Lebemann Bloch brauchte das Leben, um seine Gedanken, die das Ungewöhnliche im Normalen suchten, bei Laune zu halten. Sein Hang zum besseren Wissen, den er schon in Schultagen kultiviert hatte und mit Charme vorzubringen wusste, ließ ihn auch an der Universität nicht im Stich.
Gedanken-Blitz
In dieser Zeit des Aufbruchs und selbstbewussten Suchens hatte er sein philosophisches Schlüsselerlebnis, das ihm, ohne Vorwarnung, ein Licht aufgehen ließ und zu jener Einsicht verhalf, die noch der alte Bloch, in treuem Gedenken, als seinen "einzigen und ersten originalen Gedanken" bezeichnete: "Zweiundzwanzigjährig kam der Blitz: die Entdeckung des Noch-Nicht-Bewussten, die Verwandtschaft seiner Inhalte mit dem ebenso Latenten in der Welt. Besonders in der schöpferischen Arbeit wird eine eindrucksvolle Grenze überschritten, die ich als die Übergangsstelle zum noch nicht Bewussten bezeichne. Mühe, Dunkel, krachendes Eis, Meeresstille und glückliche Fahrt liegen um diese Stelle. An ihr hebt sich, bei gelingendem Durchbruch, das Land, wo noch niemand war, ja das selber noch niemals war. Das den Menschen braucht, Wanderer, Kompass, Tiefe im Land zugleich. Ein entscheidender Tenor war mit dieser damaligen Aufzeichnung notiert, samt Begriff von Heimat, die sich erst bildet."
Dunkel des Augenblicks
Die Idee des Noch-Nicht-Bewussten war für den zukunftswilligen Bloch ein Schlüssel zur Welt, die sich ihm als zweifach aufgefaltetes Dasein anbot: Als Welt hatte die große umgreifende Realität zu gelten, in der das bekannte Regelwerk und die noch undurchschauten Gesetzmäßigkeiten galten.
Welt aber war auch jenes zumeist bruchstückhafte Wissen-von-Sich, das in jedem einzelnen Ich stattfand und zu einer Identität wurde, die oftmals undurchschaut blieb und dem Menschen das altehrwürdige Problem hinterließ, mit sich selber ins Reine zu kommen. Bloch begriff, dass die Zeit, in jedem erfüllten Augenblick, schon alles in sich versammelt hat, was zur Zukunft werden soll: "Die echte Zukunft - das ist die Entwicklung, die auf uns wartet, die von uns mitbefördert werden muss; die es notwendig macht, aus dem Dunkel des erlebten Augenblicks herauszukommen, die uns dazu ermuntert, uns zu erforschen, und die bewirkt, dass die in und vor uns liegenden Dinge herausgebracht werden (. . .) Das heißt, der gerade gelebte Augenblick ist völlig dunkel; ich kann ihn erst später und wahrscheinlich nur auf verfälschte Weise wahrnehmen (. . .) Oder aber ich warte ihn, male mir etwas aus, was noch nicht da ist.
Bezieht sich dieses Ausmalen auf die echte Zukunft, so entsteht aus diesem Ausgemalten, das dem Vorhergeträumten, den Wunschbildern adäquat sein kann, utopisches Denken bzw. ein Denken aus dem Utopischen (. . . ) Diese Philosophie ist nicht der Ansicht, es gehe darum, quasi mit unserem beschränkten Untertanenverstand etwas hervorzubringen, das selbst schon völlig herausgebracht ist und empirisch als reflektierter Begriff erscheint. Nein. Sie geht vielmehr von der Grundthese aus, dass die Welt selber eine Frage ist, und dass der Affekt, den wir ihr gegenüber empfinden, sowohl philosophisch wie wissenschaftlich, der des Staunens ist. Das Staunen ist die Mutter des Fragens überhaupt."
Im Vergleich zu Freuds berühmt-berüchtigtem Unbewussten, das eher einem heimtückisch bergenden Schatzkästlein glich und von Bloch auch als das "Nicht-mehr-Bewusste" bezeichnet wurde, erwies sich das Noch-Nicht-Bewusste als ein dynamisches Erklärungsmodell für den Ereignischarakter von Welt und Bewusstsein. Der Philosophie war damit eine Kategorie an die Hand gegeben, Geschichte auf ihre uneingelösten Versprechen hin zu befragen und der Zukunft ein Bild einzugeben, das aus dem Sehnsuchtspotenzial und Verschwiegenheitsarsenal der Gegenwart stammte.
Blochs Schlüsselerlebnis, die Entdeckung des Noch-Nicht-Bewussten, setzte in ihm eine enorme Arbeitswut frei. Es kam ihm vor, als müsste er der Welt von nun an als enthusiasmierter Souffleur begegnen, der das längst Vergessene einzuflüstern hatte, um daraus Merkverse für die Tagträume des Zukünftigen zu machen. Das Ganze zählte, der Blick auf ein noch unwirkliches Glück.
Die Weltanschauung, die Blochs Philosophie die nötige Würze gab, war der Marxismus. Von ihm mochte er nicht lassen - vielleicht weil er es sich erlauben konnte, ihn im Sinne der hochfahrenden Philosophie, die er sich zurechtgelegt hatte, zu verbiegen. Wenig Glück war dem Philosophen Bloch indes beschieden, wenn er sich auf das Feld der Tages- und Jahrhundertpolitik herabließ; seine Nibelungentreue zum Marxismus brachte ihn zu finsteren Fehlurteilen.
Unorthodoxer Marxist
Im Laufe der Zeit jedoch und begünstigt von radikal veränderten Umständen schlug die Blochsche Marxismus-Orthodoxie in ihr Gegenteil um. Als der Philosoph in den fünfziger und sechziger Jahren wiederholt mit den offiziellen Philosophie-Verwaltern der DDR zusammenstieß, war es ein Leichtes, Bloch zum antiautoritären Querdenker zu erklären. Dies tat man, aus naheliegenden Gründen, vorzugsweise im Westen, wo es in gewissen Kreisen durchaus als schick galt, sozialistische Eigenbrötler mit an den gut gedeckten Tisch des Hauses zu bitten. Nach dem Bau der Berliner Mauer blieb Bloch in der Bundesrepublik, in der er schon bald zum geliebten und gefürchteten Freigeist avancierte, den die Studenten und Feuilletons schätzten und den die amtierende Philosophie mit säuerlichem Desinteresse abzustrafen suchte. Je älter der Philosoph Bloch wurde, desto jugendlicher wirkte seine Philosophie.
Zur Zeit der Studentenunruhen lief der unruhige alte Mann zu großer Form auf: Alles Kleinkarierte hatte er abgestreift; nun gelang es ihm, ein ums andere Mal, von der Idee des Sozialismus im Stile eines großen Poeten zu berichten, der sich seine Kinderträume bewahrt hat und deswegen unkundig ist in der Kunst, vor jeder Zeit klein beizugeben.
Bloch hielt, in jugendhaftem Trotz und wider schlechteres Wissen, an der Überzeugung fest, dass die Kraft des utopischen Denkens die Welt verändern könnte. Seinem philosophischen Schlüsselerlebnis, der Entdeckung des Noch-Nicht-Bewussten, hat Bloch vor allem mit der Niederschrift seines Hauptwerks "Das Prinzip Hoffnung" entsprochen, einem wahrhaft weitreichenden Gedankenepos, das aus der Wunderwelt der Desiderate und Traumprojektionen wie ein wort- und bilderstarker Abenteuerroman berichtet.
Opus Magnum
Das Schicksal, das dieses hell-leuchtende Werk nahm, ist nicht ohne Komik: Den Titel des Buches, das kaum einer je zu Ende gelesen hat - was damit zusammenhängen könnte, dass es immerhin einen Umfang von mehr als 1600 Seiten hat -, kennt heute jeder, auch wenn den wenigsten bewusst sein dürfte, dass sich ein philosophisches Opus Magnum dahinter verbirgt. "Das Prinzip Hoffnung" ist zur Allerweltsfloskel verkommen, die der halbwegs Sprachkundige verwendet, um auf die Unabgeschlossenheit aller irdischen Bemühungen zu verweisen, denen der unbelehrbare Glaube gilt, dass es einen guten Tages vielleicht doch besser kommen könnte.
Blochs öffentliche Auftritte wurden bereits zu Lebzeiten des Philosophen zur Legende. Wo er, der große alte Mann mit dem markanten Gesicht, der Späherbrille und dem eindrucksvollen Schopf, auftrat, war etwas los. Wie Bloch auf der Rednertribüne wirkte, hat der Journalist Heinz Brandt so beschrieben: "Wie er da stand, schlohweißen Hauptes, mit beschwörendem Seherblick, die Arme zum Himmel gereckt, Zornesfalten über der Nase, steil zur zerfurchten breiten Stirn aufsteigend, so dass sich die vertikalen und horizontalen Linien michelangelesk überschnitten, glich er einem alttestamentarischen Propheten, der, mit Jehova hadernd, den Untergang seines Jerusalems abzuwenden unternimmt."
Der Eindruck des Ungewöhnlichen verstärkte sich, wenn man Bloch gegenüber saß: "Sehr selten sah und sieht man dies", notierte der Schriftsteller Jean Améry, "ein Antlitz von derart ungeheurer, fast quälender geistiger Angestrengtheit. Lippen, die tief herabgezogen sind, nicht von Spott, noch weniger von Verachtung; von gestrafftestem geistigen Kraftaufwand ganz allein. Längsfalten, wie vom Schnitzmesser gekerbt. Durchdringend blickende Augen hinter beängstigend dicken Brillen eines schwer Kurzsichtigen. Dazu eine ganz seltsame Stirn, höhnisches Dementi des Wort- und Bildklischees von der Hohen Denkerstirn. Ernst Blochs Stirn ist auffallend niedrig, ein mäßig gebogenes Halbrund, gebildet vom Ansatz des dichten, harten weißen Haares. Das ganze Gesicht stellt beunruhigende Anforderungen, vor denen zu bestehen keiner sich so geschwind zutraut."
Horizont der Hoffnung
Ein Philosoph wie Bloch fehlt uns in dieser Zeit. Mag sein, dass er, wie wir auch, mit der denkwürdigen Rasanz der Entwicklung einerseits und postmoderner Gleichgültigkeit andererseits seine Schwierigkeiten hätte. Umso mehr würde er an seine Überzeugungen erinnern, die auszusprechen anderen heute sichtlich schwerfällt. Blochs "Prinzip Hoffnung", das auf der Erinnerungsarbeit gründet, die sich nach der Entdeckung des Noch-Nicht-Bewussten, dem Blochschen Schlüsselerlebnis, ergab, steht noch immer zur ungefälligen Lektüre an.
Das "Prinzip Hoffnung" hütet - im Gewesenen sowohl als auch im Gegenwärtigen und in der Zeit, die da kommt - das uns übereignete Glücksversprechen; am Horizont der Hoffnung hält sich, letztlich, jene alles benennende Heimat bereit, die Rückhalt gibt und Geborgenheit, weil in ihr der Mensch, nach langem Weg, zu sich selber findet:
"Das Morgen im Heute lebt, es wird immer nach ihm gefragt. Die Gesichter, die sich in die utopische Richtung wandten, waren zwar zu jeder Zeit verschieden, genauso wie das, was sie darin im einzelnen, von Fall zu Fall, zu sehen meinten. Dagegen die Richtung ist hier überall verwandt, ja in ihrem noch verdeckten Ziel die gleiche; sie erscheint als das einzig Unveränderliche in der Geschichte. Glück, Freiheit, Nicht-Entfremdung, Goldenes Zeitalter, Land, wo Milch und Honig fließt, das Ewig-Weibliche, Trompetensignal im Fidelio und das Christförmige des Auferstehungstages danach: es sind so viele und verschiedenwertige Zeugen und Bilder, doch alle um das her aufgestellt, was für sich selber spricht, indem es noch schweigt."
Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Er ist u. a. Autor der Bücher "Sternstunden der Philosophie" und zuletzt "Schopenhauer oder die Erfindung der Altersweisheit" (C. H. Beck, 2010).