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Taijiquan - die "friedliche" Kampfkunst

Von Marcel Etschmayer

Reflexionen
© Corbis

Wenn man dieser Tage in den frühen Morgenstunden gemütlich durch die Stadt schlendert, kann man in so manchem Wiener Park Erstaunliches entdecken: Kleinere oder größere Ansammlungen von einander meist fremden Menschen üben dort gemeinsam Tai Chi aus, wie dies schon seit vielen Jahrzehnten in China der Brauch ist. Und man stellt sich die Frage: Worum handelt es sich bei dieser Bewegungskunst?


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Über die Entwicklungsgeschichte des Tai Chi streiten sich die Geister: Man sagt, Taijiquan wurde in seiner heutigen Form gegen Ende der Yuan - Dynastie im 14. Jahrhundert von Zhang Sanfeng, dem "Taoisten des Wudang -

Berges", erfunden, nachdem er den Kampf zwischen einer Schlange und einem weißen Kranich beobachtet hatte...

Die Ursprünge dieser Kampfkunst liegen in der Traditionellen Chinesischen Medizin, im Besonderen in der Meditations- und Bewegungslehre "Qi Gong".

(Qi Gong unterscheidet sich im Wesentlichen vom Tai Chi, indem die Aufmerksamkeit dabei nach innen gerichtet ist. Beim Tai Chi ist die Aufmerksamkeit sowohl nach innen, als auch nach außen, auf den imaginären Gegner/Partner, gerichtet)

Der heutige Volkssport wurde über Jahrhunderte vor der Bevölkerung geheim gehalten, und zwar aus dem Grund, dass diese Kampfkunst nicht zu kriegerischen Zwecken ausgenutzt werden konnte, wobei nur Männer in die Kampfkunst eingeweiht wurden.

So entstanden Familiengeheimnisse, aus denen sich mit den Jahren die 5 Familienstile entwickelten. Man unterscheidet den Sun - Stil, den Yang - Stil, zwei Wu - Stile und den Chen - Stil, welcher im Westen am populärsten ist.

Taoistische Philosophie

Die Erde war im Weltbild der alten Zeit ein Viereck, und der Himmel war eine gewölbte Schale darüber.

Der Himmel wurde am Rand und in der Mitte von Balken gestützt, damit er die Erde nicht erdrückte. Der große Balken in der Mitte hieß "Tai Chi". Er berührte am nördlichen Polarstern den Himmel und reichte tief in die Erde hinab.

Nach einer altchinesischen philosophischen Lehre, dem so genannten Taoismus, soll der Mensch nun diesem Balken entsprechen: es sei die Aufgabe jedes Menschen, als Verbindung zwischen Erde und Himmel zu fungieren. Das heißt, die Füße des Menschen sollen auf der Erde stehen und der Kopf bis in den Himmel emporragen. Hier findet sich das Prinzip des Taoismus wieder: Dieser geht davon aus, dass der Mensch beziehungsweise jede Erscheinungsform des Lebens von zwei gegensätzlichen Kräften, genannt "Yin" und "Yang", beherrscht wird. Obwohl sich diese Kräfte gegenüberstehen, ergänzen sie sich zu einem vollkommenen Ganzen, dem "Tao". So gehen scheinbare Gegensätze wie männlich und weiblich oder hell und dunkel aus demselben Urgrund hervor. Die Nacht wandelt sich beispielsweise zum Tag und der Tag wiederum zur Nacht. Die Dynamik und Wandlung dieser vereinbaren Gegensätze macht die gesamte, polare Welt aus.

"Das Yin und Yang haben ihren Ursprung im Ganzen,und das Ganze ist die Mutter von Yin und Yang.In Bewegung trennt sich das Ganze in Yin und Yang.In Ruhe vereint es sich zum Ganzen."(altchinesische Weisheit)

Yin und Yang tragen unterschiedliche Lebensenergie in sich, welche in der chinesischen Philosophie "Qi" genannt wird. Dieser schwer übersetzbare Begriff findet sich speziell in der Traditionellen Chinesischen Medizin wieder: die Lebenskraft Qi fließt - dem Wasser gleich - in einem geordneten System durch den Körper. Man sagt: "Was Qi hat, lebt, was kein Qi hat, stirbt.

Leben entsteht durch Qi." Gesundheit ist nach chinesischer Lehre aber nur möglich, wenn ein harmonischer Fluss dieser Qi - Energie vorliegt.

Und eben dieses Ziel wird in der alten chinesischen Kampfkunst "Taijiquan" angestrebt.

Hierbei sollten anfangs gleich die variierenden Schreibweisen des Begriffes erwähnt werden: Taijiquan wird in Europa auch "Chinesisches Schattenboxen" genannt und meist - zum Beispiel im Gesundheitsbereich - in der geläufigen Kurzform "Tai Chi" oder "Taiji" verwendet.

Die Übersetzung der chinesischen Schriftsymbole bietet übrigens immer verschiedene Möglichkeiten, da chinesische Kultur und Sprache prinzipiell von Mehrdeutigkeit geprägt sind. So bedeutet "Tai" soviel wie " höchst" oder "allergrößt" und "Chi"(oder "Ji") "äußerstes Ende", "extrem" oder auch "Gipfelpunkt". Die Silbe "Quan" bedeutet "Faust".

Somit kann der Begriff "Taijiquan" als "Kampf mit leerer Faust" beziehungsweise "Kampf ohne Waffe" übersetzt, doch präziser als "Sammlung der Lebenskräfte im Körperinneren" oder "Ausgewogenheit von Yin und Yang" ausgelegt werden.

Die Kunst des Tai Chi lehrt uns also, Yin und Yang in Balance zu bringen, das heißt, Körper, Energie und Geist zu nähren und zu harmonisieren. Auf diesem Weg wird der Körper aufgerichtet und erhält neue Struktur. Gleichzeitig werden Spannungen und Blockaden abgebaut. Neue Synergien werden möglich, und die Lebensenergie Qi wird angeregt, zu fließen.

Beim Ausführen von Tai Chi - Übungen bewegt man sich - ohne Anstrengung - ruhig und kontemplativ. In einer traditionellen Abfolge werden im Zeitlupentempo sanft fließende Körperübungen ausgeführt, die der altchinesischen Kampfkunst nachempfunden sind. Die festgelegten Bewegungsabläufe bezeichnet man auch als "Formen", welche als so genannte Soloübungen einzeln absolviert werden. Diese Formen erzählen manchmal richtige kleine Geschichten und besitzen klingende Namen wie zum Beispiel: "Der goldene Hahn steht auf einem Bein" oder "Schritt zurück und den Affen abwehren"...

Dabei soll statt der äußeren, schwerfälligen Kraft " li" die wesentliche und innere Kraft "chin" herangebildet und eingesetzt werden: daher nennt man Tai Chi unter den Kampfkünsten(chin."Wushu") auch die "innere Kampfkunst". Bei dieser lernen wir, mit unserer Vorstellungskraft Bewegungen aus der Mitte heraus durchzuführen. Wir lernen, stabil zu bleiben und auch bei Druck zu entspannen. Wir lernen nachzugeben, ohne davonzulaufen, denn eine Regel des Tai Chi besagt: "Das Weiche besiegt das Harte."

Wenn man die Kunst des "Schattenboxens" einigermaßen beherrscht, werden die Bewegungsabläufe auch als Partnerübungen durchgeführt, wobei sich hierbei erst der Aspekt der Kampfkunst erschließt. Die Partner fechten dabei einen imaginären, genau choreographierten Kampf aus. Der Gegner wird nicht angegriffen, sondern soll uns unterstützen, mehr über uns selbst zu erfahren. Auf diese Weise wird er zum Partner.

Obwohl die so genannte "Kampfkunst nach dem höchsten Prinzip" heute fast ausschließlich zur Gesunderhaltung und Stressbewältigung eingesetzt wird (die im Westen gebräuchlichen Formen sind waffenlos), dienen bestimmte Sequenzen in leicht abgewandelter Form effektiv der Selbstverteidigung.

Zu den Kampfanwendungen in Taijiquan zählen "Pushing Hands"(die wohl bekannteste Partnerübung), der Zweikampf Sanshou, und die Geräte- und Waffenformen. Als Waffen des Taijiquan gelten:

der Kurzstock Qi Mei Gun

der Langstock Gun

der 3m Langstock Dagan

der Speer Qian

der Fächer

das gerade, zweischneidige, einhändige chinesische Schwert

der chinesische Hellebarde Guan Dao

der chinesische Säbel Dao

Bei den Wettkämpfen, die meist nur in der Volksrepublik China stattfinden, wird aber nicht der "Kampf", sondern nur die Ausführung der Form bewertet.

Doch folgende 10 Grundregeln sollten beim Üben stets eingehalten werden:

1) Halte den Kopf aufrecht, um Deinen Geist zu entfalten

2) Lockere die Ellbogen, damit die Schultern sinken

3) Brust und Rücken sollen entspannt sein

4) Lockere Deine Taille

5) Verteile das Gewicht richtig (Fülle/Leere)

6) Bringe Ober- und Unterkörper in Einklang

7) Deine Bewegungen sollen fließen

8) Verbinde den Geist mit dem Körper

9) Gebrauche Yi (Intention, Absicht), nicht rohe Kraft (Muskelkraft)

10) Suche die Ruhe in der Bewegung und die Bewegung in der Ruhe

Tai Chi beinhaltet sowohl meditative als auch gesundheitsfördernde Übungen, die sich besonders für übergewichtige Menschen eignen, deren Ziel es ist, beim Abnehmen die Gelenke zu schonen. Nebenbei werden Herz und Lunge gekräftigt.

Die Bewegungen unterscheiden sich jedoch sehr von den Bewegungen des Alltags. Deshalb müssen bisher wenig gebrauchte Areale des Gehirns erst trainiert werden, um gewisse Tai Chi - Übungen exakt durchzuführen.

Anna Zwettler, Lehrerin des renommierten Tai Chi Vereins "Shambala", meint dazu: "Taijiquan ist eine Entdeckungsreise in den eigenen Körper, das Innere und das Äußere des Lebens - zu vielleicht noch verborgenen Schätzen. Dorthin kann ich eure Begleiterin sein."

Denn damit Fehler unter fachkundiger Anleitung sofort korrigiert werden, lernt man Tai Chi am besten in einem Kurs, der bereits von vielen Instituten und Fitnessstudios angeboten wird. Und man benötigt keine teuere Ausrüstung, sondern nur bequeme Kleidung...

Aggressionsabbau

Die auf langsame Art ausgeführten Bewegungen fördern die Konzentration und bieten - gerade in diesen Zeiten, wo Amokläufe und Gewaltdelikte an der Tagesordnung stehen - besonders für Jugendliche eine optimale Möglichkeit zur Aggressionsbewältigung und Konfliktlösung. Nebenbei wird durch Tai Chi auch das Selbstbewusstsein gestärkt und mit Hilfe einer bewussten und tiefen Atmung werden Stress und Ängste reduziert.

Ja - schon der berühmte Psychoanalytiker C.G. Jung sagte über Tai Chi:

"Es ist aber gerade der Osten, der uns ein anderes, weiteres, tieferes und höheres Begreifen lehrt, nämlich das Begreifen durch das Leben."

Literaturempfehlungen:

Hong Li Yuan: Tai Chi Chuan, Chen Stil; Übungen für Körper und Geist; ISBN: 3-485-00816-8, Nymphenburger 1999

Hong Li Yuan: Die Tempelglocken von Shanghai; Roman, Fischer Verlag Taschenbuch 2003

Toyo und Petra Kobayashi: Tai Chi Chuan - Einswerden mit dem Tao; ISBN: 3-89631-339-8, Irisiana Verlag

Kontakte:

Chi - Verein Shambala

Josefstädterstraße 5/7

1080 Wien

Tel.: 01/408 47 86

Bürozeiten: Mo - Do: 14-17 Uhr

www.shambala.at

Tai Chi - Schule Helmut Stingl

Fernkorngasse 30/1/31

1100 Wien

Tel.: 01/600 7 900

www.dao.at

Shinergy - Trainingszentrum für Körper und Geist

Lange Gasse 78

1080 Wien

Tel.: 01/ 403 50 90

www.shinergy.com

www.vhs.at