Die Wähler erwarten von der frischgekürten Präsidentin Tsai Ing-wen vor allem, dass sie die Wirtschaft belebt.
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Taipeh. Wenn das Wirtschaftswachstum auf unter drei Prozent fiele, würde er ein Drittel seines Gehaltes spenden. Das soll der noch bis Mai amtierende taiwanische Präsident Ma Ying-jeou einmal versprochen haben. Obwohl das Wachstum auf ein Prozent sank, blieb Ma die Einlösung seines Versprechens schuldig. "Es wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein", soll er gesagt haben. Die Anekdote, die Shieh Jhy-wey, der frühere inoffizielle Botschafter Taiwans in Deutschland, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Taiwan erzählt hat, zeigt, wie schlecht es um die Wirtschaft des früheren "Tigerstaates" steht. Außerdem offenbart sie, dass die Politik bisher weder Lösungen dafür gefunden hat noch die Verantwortung übernimmt.
Das soll sich jetzt ändern. Die Taiwaner setzen ihre Hoffnung in Tsai Ing-wen, die frischgewählte erste Präsidentin des Landes. Die Parteichefin der bisher oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) strafte ihren Kontrahenten Eric Chu von der langjährigen Regierungspartei Kuomintang (KMT) geradezu ab. Sie erhielt bei den Wahlen am Samstag über 56 Prozent der Stimmen, er nur 31. Zum ersten Mal schaffte es die Opposition sogar, mit 68 von 113 Sitzen die Mehrheit im Parlament zu erlangen; die KMT erhielt nur 35 Sitze.
Mit diesem komfortablen Vorsprung kann Tsai nun eine stabile Regierung bilden. Zugleich erwarten die 59-Jährige viele Herausforderungen. Am wichtigsten für viele Wähler sei, dass die neue Regierung etwas gegen die stagnierende Wirtschaft, die ungleiche Einkommensverteilung sowie die nach oben schießenden Immobilienpreise tue, sagt der Politologe Wu Yu-shan. James C. F. Huang, ein wichtiger Berater von Tsai und Direktor der internationalen Abteilung der DPP, kündigte an, dass die Partei mit dem Fokus auf fünf Kernbereiche die Konjunktur wieder in Fahrt bringen wolle: Man wolle erneuerbare Energien und die Biochemie- und Industrieforschung fördern, außerdem die Verteidigungs-, die Präzisions- sowie die IT-Industrie. Taiwan wolle ein eigenes "Silicon Valley" aufbauen, sagte Huang.
Neu sei das nicht, kritisiert der Wirtschaftsexperte Darson Chiu vom Taiwan Institute of Economic Research, dem größten Thinktank des Landes. Die fünf Bereiche gebe es bereits. "Ich glaube nicht, dass die DPP viel erreichen wird", sagte Chiu.
Doch die Partei hat keine andere Wahl. Taiwan benötigt dringend ein neues Erfolgsmodell, weil die Gewinnmargen zuletzt immer stärker gesunken sind. Die ostasiatische Nation hatte sich weltweit einen Namen als Hersteller von Produkten für den amerikanischen Konzern Apple und andere Elektronikriesen gemacht und sich damit vom Image als Billigproduktionsland emanzipiert.
Viele Junge ohne Job
In den 80er Jahren hatte Taiwan einen rapiden Aufstieg mit zweistelligen Wachstumsraten hingelegt, der ihm den Beinamen "Tigerstaat" einbrachte. Schon unter der scheidenden KMT wurde viel Geld in die Innovationsförderung gesteckt. Vor allem in und um Taipeh investieren der Staat, Firmen und Universitäten in "Science Parks" sowie in "Maker Spaces", also Orte, an denen teure Maschinen und Geräte wie 3D-Drucker gemeinschaftlich genutzt werden können. Der "Maker"-Trend kam vor etwa zwei Jahren aus den USA nach Taiwan.
"Wir müssen Start-up-Unternehmen unterstützen, wir brauchen mehr Unternehmer", sagt der Tsai-Berater Huang. Das würde ein weiteres Problem wenigstens in Ansätzen lösen, nämlich die hohe Arbeitslosigkeit mit rund zwölf Prozent unter Taiwanern Anfang 20, dreimal so hoch wie der Durchschnitt. Frustrierend für viele ist zudem, dass sie keine Chance sehen, sich je eine Eigentumswohnung zu leisten. Christine Lee, eine 28-jährige Managerin, die bei ihren Eltern lebt, sagt: "Selbst wenn man nichts essen würde, könnte man es in der eigenen Lebenszeit nicht schaffen, in Taipeh Eigentum zu erwerben." Dabei verdient sie mit umgerechnet rund 27.000 Euro überdurchschnittlich gut. Kaufkraftbereinigt sind viele Wohnungen in Taipeh teurer als in London, wo die Gehälter deutlich höher sind.
Solche Bedingungen haben dazu geführt, dass viele junge Taiwaner ihr Glück im Ausland versuchen, etwa in der Volksrepublik China. Dort können sie ein Vielfaches verdienen. Taiwan leidet schon jetzt unter Fachkräftemangel. Das Verhältnis zum "großen Bruder" ist gespalten. "Taiwans Wirtschaft ist stark abhängig von China", sagt der Wirtschaftsexperte Chiu. "Die chinesische Wirtschaft hat einen riesigen Einfluss auf Taiwan." China und Hongkong seien mit knapp 40 Prozent die wichtigsten Exportdestinationen für Taiwan, gefolgt vom Verband Südostasiatischer Nationen (Asean) mit rund 18 Prozent, der Europäischen Union mit 9 und Japan mit knapp 7 Prozent.
China als Gretchenfrage
Wie sich Taiwans Wirtschaft entwickelt, wird nicht zuletzt vom politischen Verhältnis zu China abhängen. Die Annäherung der chinafreundlichen KMT an Peking war vielen Taiwanern zu weit gegangen, wie die Wahlen erneut belegten. Die Partei akzeptiert den "Konsens von 1992", wonach es nur "ein China" gibt. Beiden Seiten steht es demnach frei, die Bedeutung des Begriffs zu bestimmen. Für China bedeutet der Konsens, dass Taiwan ein Teil von China ist. Die neue Präsidentin Tsai hat sich stets geweigert, diesen Konsens zu akzeptieren.
Taiwan regiert sich seit 1949 selbst. Damals flohen die Nationalisten unter Chiang Kai-shek nach dem verlorenen Bürgerkrieg vor Maos Rotarmisten nach Taiwan. Extreme Flügel von Tsais Partei streben explizit nach Unabhängigkeit für Taiwan. Tsai, der die wirtschaftlichen Abhängigkeiten bewusst sind, wurde indes nicht müde zu betonen, dass sie den "Status quo" erhalten wolle, wie die Mehrheit der Taiwaner. Schon direkt nach der Wahl pochte Peking erneut auf seinen Anspruch auf Taiwan. Ähnlich wie beim Nachbarn Japan setzt Taiwan nun darauf, sich weniger auf China zu verlassen, sondern stattdessen die Beziehung zu den Asean-Staaten auszubauen.