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"Soldaten und Brot": Nato arbeitet an Doppelstrategie. | Islamisten antworten mit Selbstmordanschlag. | Wien/London. Noch ist Afghanistan nicht verloren. Davon gehen zumindest jene Politiker und Wissenschafter aus, die am morgigen Donnerstag in London zu einer großen Konferenz zusammenkommen und die das Ruder in dem von Anschlägen heimgesuchten Land im letzten Moment herumreißen wollen. | Analyse: Erinnerungen an Vietnam | Die Nachbarstaaten mischen mit | Nato-Truppen verstärken ihren Einsatz in Südafghanistan
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Experten warnen, dass dem Westen, der seit dem Oktober 2001 Truppen im Land am Hindukusch stationiert hat, nicht mehr viel Zeit bleibt. Denn die Probleme, die bei den Afghanistan-Konferenzen in London 2006, Paris 2008 und Den Haag 2009 debattiert wurden, sind nicht nur immer noch die gleichen, sie haben sich in vielen Bereichen dramatisch verschärft. So ist es nicht gelungen, die Taliban militärisch zu besiegen, die Aufständischen werden vielmehr immer stärker. Der Wiederaufbau verläuft unkoordiniert, die Korruption hat mittlerweile beängstigende Dimensionen erreicht.
Die Versäumnisse der Vergangenheit wurden von Militärs und Politiker eingehend analysiert, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, wird jetzt von 70 Delegationen in London heftig debattiert werden. Als Kardinalfehler gilt jedenfalls der von der Bush-Regierung angezettelte Irak-Krieg, der die bedrohliche Entwicklung in Afghanistan jahrelang aus dem öffentlichen Blickfeld verdrängte und der militärische sowie finanzielle Ressourcen band. Den Taliban, die bereits als besiegt galten, gab das genügend Raum, sich neu zu organisieren. Einig sind sich die Konferenzteilnehmer jetzt schon, dass die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte zu schleppend verlief. Diese sind noch immer auf massive Unterstützung der ausländischen Truppen angewiesen. Auch die ländliche Entwicklung wurde vernachlässigt, obwohl die meisten Afghanen Bauern sind. Der Brite Mark Sedwill soll jetzt - wie am gestrigen Dienstag bekannt wurde - als neuer Zivil-Beauftragter der Nato in Afghanistan die verschiedenen Hilfsmaßnahmen effizienter koordinieren.
Doppelstrategie
Die Nato-Länder wollen auf die kritische Situation in Afghanistan mit einer Doppelstrategie reagieren. Einerseits sollen mehr Truppen entsandt werden - insgesamt 30.000, die Deutschen wollen 500 schicken. Andererseits will man die Bemühungen im Bereich des zivilen Aufbaus massiv verstärken. In einem neuen Gesamtkonzept für die Region, auf das sich die deutsche Regierung jetzt geeinigt hat, ist vorgesehen, dass die Soldaten "stärkere Präsenz in der Fläche" zeigen sollen anstatt sich in den Camps einzuigeln. Nur so könnten die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert werden.
Mit diesen friedlichen Mitteln will der Westen die Voraussetzungen für einen Abzug schaffen. Damit soll nach den Vorstellungen von US-Präsident Barack Obama bereits im nächsten Jahr begonnen werden. Allerdings überwiegen derzeit die Stimmen jener Politiker, die sich gegen ein konkretes Rückzugs-Datum aussprechen und vor einem zu raschen Verlassen des Landes warnen. So sind die deutsche und die britische Regierung der Ansicht, dass man keine "Brutstätte des Terrorismus" zurücklassen dürfe. Außerdem würde die Nennung eines konkreten Abzugstermins auch den Taliban eine Perspektive eröffnen: Diese wüssten dann, wie lange sie noch durchzuhalten hätten.
Der "gute Islamist"
Eine verblüffende Erkenntnis, die sich im Westen allmählich durchzusetzen beginnt, ist, dass an der Einbindung der Taliban in eine künftige Afghanistan-Strategie kein Weg vorbeiführt. Ein Gedanke, der noch vor einigen Jahren als völlig abstrus abgetan worden wäre. Damals waren die Taliban noch als bärtige Islamisten bekannt, die Frauen Arbeit und Bildung verwehren, in Fußballstadien hinrichten, Musik verbieten und das Land ganz allgemein in die Steinzeit zurückwarfen. Außerdem waren sie es, die Osama bin Laden und seiner Al Kaida Unterschlupf boten.
Jetzt soll den Taliban - auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle hat entsprechende Pläne vorgestellt - wirtschaftlich geholfen und eine Perspektive gegeben werden. Bedingung ist, dass sich die Taliban von der Al Kaida distanzieren. Nach den Vorstellungen des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai und der Staatengemeinschaft soll die afghanische Regierung Friedensgespräche mit den Taliban führen, die UNO wäre zur Vermittlung bereit.
Die Aufständischen - von Präsident Hamid Karzai erst gestern als "Kinder der afghanischen Erde" umworben - haben den Forderungen, die der Westen an sie stellt, bereits teilweise entsprochen. Anders als die Al Kaida verfolge man keine globalen Ziele, sondern wolle sich auf Afghanistan beschränken, hieß es dazu. Die Taliban würden zu Unrecht als Terroristen bezeichnet, sagen die, die sie einbinden wollen. Die Geschichte der Dritten Welt lehre, dass Aufstandsbewegungen immer zuerst als terroristisch gebrandmarkt worden seien, dass es ohne der Schließung von Kompromissen mit diesen Bewegungen aber nie zu einem Friedensschluss gekommen sei. Ein westlicher Diplomat in Kabul berichtet, es gebe "Annäherungsversuche" der Quetta-Shura, des Führungsrats der Taliban unter Mullah Omar. Dieser sei an Gesprächen interessiert. Es gebe ermutigende Signale und "Raum für Verhandlungen". Die Taliban hätten allerdings die Sorge, dass sie vom Verhandlungstisch direkt nach Guantanamo verschifft würden.
Zunächst lassen die Islamisten aber noch wenig Verhandlungsbereitschaft erkennen. Bei einem Selbstmordanschlag vor einem Nato-Stützpunkt in Kabul sind am gestrigen Dienstag erneut mindestens 14 Menschen verletzt worden. Bei den Opfern handelt es sich um acht ausländische Soldaten und sechs afghanische Zivilisten. Die Taliban haben sich umgehend zu der Tat bekannt. Erst vor einer Woche hatte ein Taliban-Kommando das Regierungsviertel von Kabul massiv angegriffen.