US-Soldat erschießt 16 Zivilisten - Regierung ruft zur Ruhe auf.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kabul. Nach dem Massaker eines US-Soldaten an Zivilisten in einem Dorf im Süden Afghanistans wächst die Angst vor Racheakten. Die aufständischen Taliban schworen am Montag, den Tod jedes einzelnen Opfers der Bluttat zu vergelten. Das Parlament in Kabul verlangt nun, dem Täter in Afghanistan den Prozess zu machen. Am Sonntag hatte ein US-Soldat unweit seiner Militärbasis westlich der Stadt Kandahar offenbar wahllos mindestens 16 Menschen - darunter viele Kinder - in ihren Häusern erschossen.
Die USA und die Nato haben eine umfassende Untersuchung der Tatumstände angeordnet und ihr Bedauern über "den schrecklichen Vorfall" ausgedrückt. Sie gehen bisher davon aus, dass es sich bei dem Todesschützen um einen geistig verwirrten Einzeltäter handelt. Unklar blieb zunächst, wie der Amokschütze mitten in der Nacht unbemerkt seine Militärbasis verlassen konnte, was ohne militärischen Auftrag streng verboten ist.
US-Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich entsetzt: "Wie viele Amerikaner bin auch ich schockiert über die Tötung unschuldiger afghanischer Dorfbewohner." Nachsatz: "So sind wir nicht." Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach den Afghanen bei einem Besuch der Bundeswehrtruppen in Mazar-e-Sharif ihr Beileid aus. Gleichzeitig sorgte sie allerdings für Irritationen, weil sie bezweifelte, ob bis zum geplanten Abzug 2014 der Versöhnungsprozess mit den Aufständischen ausreichend Fortschritte gemacht haben werde.
Das afghanische Innenministerium rief die Bevölkerung auf, die Ergebnisse der Untersuchung abzuwarten, offenbar in Sorge, das Massaker könnte eine ähnlich blutige Protestwelle ausbrechen wie Ende Februar, als aufflog, dass auf einem US-Militärsützpunkt Koran-Bücher verbrannt worden sind. Auch Geistliche in Kandahar, der Geburtsstätte der Taliban-Bewegung, riefen am Montag zur Ruhe auf. Vereinzelt kam es jedoch vor Einrichtungen des US-Militärs in Afghanistan zu Demonstrationen. Insgesamt schienen aber - anders als nach der Koran-Verbrennung - die Appelle von Politikern und Religionsführern die Wut der Bevölkerung im Zaum zu halten.
Die Taliban erklärten allerdings auf ihrer Website, die "amerikanischen Terroristen" würden den Täter als verrückt darstellen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, und kündigten Racheakte an. Gleichzeitig brach das Parlament seine Sitzung aus Protest gegen das Blutbad ab. "Die Toleranzgrenze ist erreicht", hier es. Die Abgeordneten fordern nicht nur vollständige Aufklärung, sondern auch einen öffentlichen Prozess gegen den mutmaßlichen Täter - und zwar in Afghanistan. Präsident Hamid Karzai sagte, die Tat sei "unverzeihbar" und "mit Absicht" geschehen.
Widersprüchliche Zeugenaussagen
Der Unmut in der Bevölkerung über Nachtrazzien und die Tötung von Zivilisten ist groß. Karzai fordert seit langem ein Ende der nächtlichen Razzien durch die ausländischen Truppen, die nach versteckten Taliban-Kämpfern suchen. Die USA und Afghanistan verhandeln zurzeit über ein Militär-Abkommen für die Zeit nach 2014. Der Plan, auch danach US-Militärbasen am Hindukusch zu betreiben, wird von Afghanistans Bevölkerung mit großem Argwohn gesehen. Der Amoklauf könnte die weiteren Verhandlungen erschweren.
Unterdessen reißen die Spekulationen über die Tatumstände nicht ab. Einige Augenzeugen berichten von einer Gruppe betrunkener US-Soldaten, die im Morgengrauen ihre Basis im Panjwai-Distrikt verlassen hatten, um im nahegelegenen Dorf Zangabad systematisch auf Menschenjagd zu gehen. Andere wiederum sprachen von einem Einzeltäter, der mit einer Kalaschnikow mit aufmontiertem Raketenwerfer ausgerüstet gewesen sei. Einwohnern zufolge soll der Soldat die Opfer in Decken eingewickelt und in Brand gesteckt haben. Der Distrikt ist seit Jahren Kriegsschauplatz zwischen Taliban und Nato-Truppen. Die Sicherheitslage ist prekär. Anfang März wurden zwei US-Soldaten von Aufständischen erschossen; im Februar starben drei bei einer Bombenexplosion.
Das Massaker von Zangabad könnte laut Beobachtern den Graben zwischen Afghanen und den USA weiter aufreißen und einen Wendepunkt im Afghanistan-Krieg einleiten. Insofern ruft es Erinnerungen an das Massaker in dem südvietnamesischen Dorf My Lai vor 44 Jahren wach.
Massaker von My Lai
Vor 44 Jahren fand im südvietnamesischen My Lai eines der blutigsten Massaker der jüngeren US-Geschichte statt.
Soldaten der 11. US-Brigade überfielen in den frühen Morgenstunden des 16. März 1968 unter Führung von Leutnant William Calley das kleine Dorf ein, trieben die Bewohner zusammen und metzelten sie wahllos nieder. Unter den 504 Toten waren 60 Greise, 182 Frauen und 172 Kinder. Mehrere der Opfer wurden vor ihrer Ermordung gefoltert, viele der Mädchen vergewaltigt. Um Beweise zu vernichten, brannten die GIs das Dorf vor ihrem Abzug nieder.
Der Auftrag lautete, die kommunistischen Vietkong-Kämpfer zu vernichten. Doch die waren schwer zu fassen, und dafür rächte sich das US-Militär immer wieder an Zivilisten. My Lai flog allerdings mehrere Monate später auf – und besiegelte die moralische Niederlage der USA im Vietnam-Krieg. Aus einem gerechten Krieg wurde plötzlich ein schmutziger – der weltweit Proteste auslöste.
Die US-Armee und die Regierung in Washington hatten zunächst versucht, die Schandtat zu vertuschen. Erst als dies nicht mehr möglich war, wurde der zuständige US-Leutnant William Calley angeklagt und als Einziger zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Gleich am nächsten Tag wurde er auf persönliche Intervention von Präsident Richard Nixon aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt. Nach drei Jahren war Calley wieder ein freier Mann.