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Kabul - Den in Afghanistan inhaftierten Mitarbeitern der Hilfsorganisation Shelter Now - vier Deutschen, zwei Australiern und zwei Amerikanerinnen - droht wegen angeblicher Missionierung für das Christentum die Todesstrafe. Völlig unklar ist derzeit, ob sie im weiteren Prozessverlauf auf den Beistand von Anwälten oder diplomatischen Vertretern zählen können. Appelle an die Taliban, nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu urteilen, stoßen auf taube Ohren. Das Urteil wird nach Einschätzung von Experten nicht nur von der extremen Auslegung islamischen Rechts in Afghanistan abhängen, sondern auch vom politischen Ränkespiel in Kabul.
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Nachdem die Taliban-Miliz 1996 Kabul eroberte, hob sie nach und nach alle früheren Gesetze und Regelungen auf, die nicht ihrer Auslegung der Sharia entsprachen. Männer dürfen sich nun nicht mehr ihre Bärte stutzen; Polo spielen und Drachen steigen lassen sind nun ebenso tabu wie Musik. Frauen dürfen sich nur noch mit der Burka zeigen, einem Überwurf, der den Körper vollkommen verhüllt. Die rigorose Ablehnung von Bildern und Skulpturen - für die Taliban Götzen - erregte mit der Sprengung der Riesen-Buddha-Statuen von Bamijan weltweites Aufsehen. Strafen wie Amputationen oder öffentliches Erhängen haben den Taliban den Ruf eingebracht, einen mittelalterlichen Gottesstaat errichtet zu haben. Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International beklagen zudem willkürliche Festnahmen, Folter und Misshandlungen.
Hinter dem allgemeinen Begriff Scharia verbergen sich zahllose Rechtsauffassungen. Wichtigste Rechtsquellen sind der Koran und die Sunna, eine Sammlung von Äußerungen und vorbildhaften Handlungen des Propheten Mohammed. Islamische Gelehrte leiten daraus ihre Urteile und Rechtsgutachten (Fatwa genannt) ab, die je nach Region stark voneinander abweichen können. So fließt in Afghanistan auch traditionelles Brauchtum ohne islamische Grundlage in die Scharia mit ein. Nach Auskunft der Afghanistan-Expertin Citha Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik spielen Traditionen der Volksgruppe der Paschtunen eine große Rolle. Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, betont: "Was sich in Afghanistan seit Jahren abspielt, ist nicht die allgemein verbreitete Auslegung." Er nennt die Taliban schlicht "militante Fanatiker".
Übertritt zu einer anderen Religion oder Missionierung ist im Islam ein wunder Punkt. In der Androhung der Todesstrafe sieht Maaß allerdings einen "Präzedenzfall". Elyas betont, dass der Islam die Religionsfreiheit anerkenne. Andreas Rieck vom Hamburger Orientinstitut verweist auf ein Dekret des Taliban-Führers Mullah Mohammed Omar, das Moslems für den Abfall vom Islam die Todesstrafe androht. Für Nicht-Moslems sei nur die Ausweisung vorgesehen. Wenn der oberste Taliban-Richter Mawlawi Nur Mohammed Sakib nun den Ausländern die Hinrichtung androht, so will er nach Einschätzung Riecks ein "Exempel statuieren". Damit solle der eigenen Bevölkerung ein Signal gegeben werden, dass die Taliban-Führung sich vom Ausland nicht beeinflussen lasse. Nach Ansicht von Maaß tobt hinter den Kulissen ein Machtkampf zwischen den Taliban-Flügeln. Dass den Angeklagten nun die Todesstrafe droht, obwohl zuvor von einer raschen Abschiebung die Rede war, zeige, dass die "Hardliner offenbar die Oberhand gewonnen haben".