Über die Bedeutung eines Talmud-Lern-Zyklus im jüdischen Alltag.
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Wien. Feierstimmung Sonntag Abend in der Synagoge in der Tempelgasse, Wien-Leopoldstadt: Diesen Sommer geht wieder einmal der siebeneinhalbjährige Zyklus des Talmud-Lernens zu Ende. Auf Hebräisch wird dies "Sijum HaSchas" genannt, die Beendigung des Lernens des gesamten Talmuds. Der Talmud ist "der Kodex der rabbinischen Lehrmeinungen zur gesamten Tora", erläutert Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister. Beim Talmud handle es sich aber nicht um Kommentare zur Bibel, sondern "es geht vor allem um die Gesetze, die in der Tora enthalten sind, sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Lehre".
Eine Seite pro Tag
Sich sein Leben lang mit der Tora auseinanderzusetzen, ist für religiöse Juden Pflicht. Jene, die ihr Leben nicht ausschließlich dem Tora-Studium widmen, sondern auch einem Beruf nachgehen, können dies im Rahmen von Daf Jomi tun, was so viel bedeutet wie "eine Seite pro Tag". Hier setzen sich Gläubige täglich mit einer bestimmten Seite des Talmuds auseinander.
Drei bis vier Stunden nimmt das in Anspruch, wobei auch der Weg zur Arbeit in der Straßenbahn oder die Mittagspause entsprechend genutzt werden kann. "Jene, denen die Tora wichtig ist, haben hier ein ganz bewusstes Zeitmanagement", so Rabbiner Hofmeister. "Man hat dann eben keinen Fernseher zu Hause. Es ist eine andere Lebensführung, eine andere Konzentration auf bestimmte Dinge." Daf Jomi kann man aber nicht nur individuell, sondern auch in der Gruppe betreiben.
In Wien werden in zwei Bethäusern Daf Jomi Schiurium (Schiur bedeutet Unterricht) angeboten. Lani Neumann ist der Vorlerner in der Synagoge in der Tempelgasse - einem orthodoxen Bethaus. Bei der Feier Sonntag Abend war daher auch die strikte Geschlechtertrennung, welche die Orthodoxie vorsieht, einzuhalten: Die Ansprachen und Gebete in der Synagoge im Erdgeschoß, zu der nur Männer Zutritt haben, konnten die Frauen entweder von der Frauengalerie im ersten Stock oder über eine Videoschaltung verfolgen. Als im Anschluss an den offiziellen Teil zum Essen gebeten wurde, feierten die Männer in einem Zelt neben der Synagoge, während das Buffet für die Frauen in einem Raum im ersten Stock des Gebäudes angerichtet worden war.
Ehrengast des Abends war der Oberrabbiner von Antwerpen, Aron Schiff. Er benutzte für seine Überlegungen zum Talmud-Lernen wie auch seine Vorredner das Jiddische, heute die internationale Sprache des religiösen Judentums. Der Wiener Rabbiner Dovid L. Grünfeld nutzte seine Redezeit vor allem, um an Rabbiner Meir Shapira zu erinnern, einen polnischen Rabbiner. Er initiierte Daf Jomi - und zwar 1923 in Wien, bei einem Kongress religiöser Juden. Am ersten Tag von Rosch HaSchana in diesem Jahr (nach dem jüdischen Kalender 5684), es war der 11. September 1923, begann der erste Daf Jomi-Zyklus.
Nun geht der zwölfte derartige Zyklus zu Ende - in Wien übrigens etwas früher als in den USA. Dort wird am 1. August Sijum HaSchas gefeiert, im MetLife Stadium in New Jersey, das 90.000 Besuchern Platz bietet. Ende Juni waren 60.000 Tickets verkauft.
In Wien fanden sich am Sonntag an die 200 Männer und Buben ein und einige Dutzend Frauen und Mädchen. Warum aber ist man hier früher mit dem Talmud-Lernen fertig als anderswo? "Wir lernen etwas schneller, damit dann auch Zeit ist, auf Urlaub zu fahren", erläutert Chaim Junger von der Synagoge Tempelgasse. Was aber versteht man genau unter dem Begriff "Talmud lernen"? Und warum braucht man drei bis vier Stunden am Tag, um eine Seite zu lesen? Es ist eben nicht ein bloßes Auswendiglernen einer Textpassage, sondern "die kritische Herangehensweise an die alltäglichsten Sachverhalte, weil der Talmud jeden Punkt der Tora hinterfragt", so Rabbiner Hofmeister. Lernen bedeute hier "zu versuchen, zu widerlegen, Alternativlösungen zu finden, um dann zu einer Schlussfolgerung zu kommen, wie das jüdische Gesetz in der Praxis angewandt werden kann".
Während Männer verpflichtet sind, Talmud zu lernen, gilt dies für Frauen nicht. Wenn sie wollen, dürfen sie dies aber tun. Am Sonntag waren die Frauen vor allem gekommen, um sich mit ihren Männern über das Erreichte zu freuen. So kam es auch am Sonntag Abend zu einem bewegenden Moment im Frauenraum der Synagoge: Als Rabbiner Grünfeld seine Ausführungen beendet hatte, wurde der "Rebbezzen", also seiner Frau, allseits von den anderen Frauen gratuliert und die Hand geschüttelt.