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Tante Anna schmeckt nach Buchteln

Von Anita Ericson

Wissen
© © © ImageZoo/Corbis

Für sie klingt marineblau wie ein Akkord in C-Dur, schmeckt der Name Derek nach Ohrenschmalz oder haben Celloklänge das sanfte Goldgelb von geschmolzenem Honig. Synästheten besitzen die Gabe der multiplen Wahrnehmung.


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"Als ich elf Jahre alt war und das Präludium in F-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach übte, nahm ich plötzlich etwas wahr, das sehr hell und zwischen rot und orange war, sehr warm und lebendig; in etwa wie ein formloser Fleck. Da Ziffern für mich aber schon immer Farben hatten - Zwei gleich gelb, Vier gleich rot, Fünf gleich grün - und ich Musik immer sehr plastisch empfunden hatte, kam mir das nicht ungewöhnlich vor", sagt die Pianistin Hélène Grimaud in einem Interview mit ihrem Label Deutsche Grammophon.

Die Französin ist weder verrückt noch auf Drogen. Hélène Grimaud ist Synästhetin. Sie ist in der Lage, zu einem tatsächlich vorhandenen Sinnesreiz einen zweiten wahrzunehmen, der nur für sie vorhanden ist - sie erlebt eine reale Illusion. Hört sie Musik, sieht sie unwillkürlich Farben dazu. Wie alle Synästheten kann sie sich das alles allerdings nicht bewusst aussuchen; bei ihr sind es die Farben, die ganz von alleine in ihrer Vorstellung entstehen, wenn sie Musik hört. Das Wort Synästhetik leitet sich ab aus den griechischen Begriffen "syn" für zusammen und "aisthesis" für Wahrnehmung. Damit bezieht es sich auf das oben beschriebene Phänomen, dass ein einziger Sinnesreiz bei einem Synästheten gleich mehrere Kanäle gleichrangig anspricht - es quasi zu einer gemeinschaftlichen Wahrnehmung etwa von Klang und Farbe kommt. Es gibt unterschiedliche Schätzungen, man geht davon aus, dass zwischen fünf und zwanzig Prozent der Menschheit synästhetisch veranlagt sind. Der Frauenanteil darunter ist überproportional hoch, sehr oft davon "betroffen" sind auch Künstler.

Ebenso wenig wie sich ein Synästhet aussuchen kann, dass er eine sekundäre Wahrnehmung hat, kann er diese beeinflussen. Das heißt für Hélène Grimaud etwa, dass ein Musikstück in D-Moll verlässlich ein leuchtendes Blau vor ihrem inneren Auge entstehen lässt, völlig unabhängig von ihrer Stimmungslage. Das ist eines der Merkmale einer echten Synästhesie: Der jeweils mitempfundene Sinneseindruck ist über Jahre unveränderlich. Farbiges Hören ist jedoch nur eine von vielen Spielarten der Synästhesie, wenn auch die mit Abstand häufigste. Rein theoretisch sind alle Kombinationen zwischen den fünf Sinnen - Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten - möglich, auch mehrfach und in feinen Variationen. So gibt es etwa alleine bei der musikalischen Synästhesie zwei Unterformen: Meistens werden, wie von Grimaud, bestimmte Tonhöhen, Akkorde oder Melodiefolgen als Farben wahrgenommen. Bei manchen jedoch ist die Klangfarbe, das Timbre der ausschlaggebende Punkt. "Ich höre eine Note von einem in der Band und sie hat eine Farbe. Dann höre ich die gleiche Note von jemand anderem und sie hat eine andere Farbe", ist vom legendären Jazztrompeter Duke Ellington, der Synästhet war, überliefert.

Es sind aber nicht nur Klänge, die von Synästheten oft als Farben interpretiert werden. Ebenso häufig, oder auch in Kombination, werden Buchstaben oder Wörter bunt gesehen. Aber so unverrückbar die Assoziationen für den Einzelnen sind - wer A rot und 9 gelb sieht, sieht das sein Leben lang so -, so unwahrscheinlich ist es, dass zwei Menschen idente synästhetische Muster haben - bis dato gibt es noch keinen belegten Fall, dass zwei Synästheten das gesamte Alphabet in der gleichen Farbschattierung gesehen haben. Das führt oft zu anregenden Familiendiskussionen, denn Synästhesie ist vererbbar und Betroffene sind pingelig präzise. So berichtet Carol Steen, Gründungsmitglied der American Synesthesia Association, dass sie einst mit ihrer Familie rund um den Tisch saß und plötzlich sagte: "Die Zahl Fünf ist Gelb." Die nachfolgende Pause unterbrach ihr Vater mit den Worten, "Nein, sie ist Ockergelb." Wie man an diesem Beispiel sieht, geht es hier auch um feine Schattierungen. So schreibt etwa Vladimir Nabokov, Autor von "Lolita" und Synästhet, in seinen Memoiren: "Da es eine diffizile Interaktion zwischen Ton und Form gibt, sehe ich das Q brauner als das K, während das S nicht das gleiche Hellblau eines C hat, sondern eine merkwürdige Mischung aus Azur und Perlmutt ist."

Bevor jetzt der Verdacht aufkeimt, die Rede wäre von Spinnern, setzen wir Jeff Coleman vor einen PC und lassen ihn die Probe aufs Exempel machen: Mit absoluter Sicherheit identifiziert er die Hs, Fs und Ps, die in einem wirren Muster aus Buchstaben versteckt sind, das ständig wechselt und jeweils nur kurz aufscheint. Seine nicht-synästhetischen Kollegen, die diesen Test ebenfalls absolvieren, schaffen nicht einmal die Hälfte. Ihnen ist die Zeit zu kurz, den Buchstaben im für sie schwarz-weißen Durcheinander aufzuspüren. Doch Coleman hat die Farben als Gehilfen: H leuchtet rot hervor, P erscheint eher grün und F tendiert ins Blau. Dieser Test wurde in den 1990ern an der Universität von Kalifornien in San Diego von Vilayanur S. Ramachandran durchgeführt, der als einer der bekanntesten Forscher im Bereich der neuropsychologischen Phänomene gilt.

Tests wie dieser brachten zu Beginn des neuen Jahrtausends wertvolle Einblicke in die neuronalen Grundlagen der Synästhesie. Normalerweise werden die fünf Sinne von unterschiedlichen Regionen im Gehirn bedient. Wer also etwas Gehörtes verarbeitet, bei dem sind andere Teile im Hirn aktiv als bei dem, der gerade einen visuellen Eindruck aufnimmt. Die Wissenschafter haben nun herausgefunden, dass bei Synästheten eben nicht nur jene Region im Gehirn aktiv wird, die für die primäre Reizverarbeitung zuständig ist, sondern auch die andere Region, die den Sekundärreiz empfindet. Damit ist belegt, dass sich ein Synästhet seine Farben nicht bloß einbildet, sondern sie in der Tat in seinem Kopf wahrnimmt. Welcher genaue Mechanismus dahintersteckt, ist jedoch noch unbekannt.

Dass Synästhesie vererbbar ist, weiß man schon seit längerem. Voriges Jahr konnte durch Zufall das Gen identifiziert werden, das dafür verantwortlich scheint: Der Wiener Molekularbiologe Josef Penninger hat im Rahmen eines internationalen Projekts Schmerzforschungen betrieben und dabei das Gen lokalisiert, das zumindest bei Mäusen synästhetische Empfindungen hervorruft (was unter anderem auch zur Folge hatte, dass sie den Schmerz weniger spürten als vielmehr rochen oder hörten). Vererbt wird allerdings nur die Disposition zur Synästhesie, die genaue Ausprägung ist auch innerhalb der Familie, selbst wenn es sich um Zwillinge handelt, individuell höchst unterschiedlich. Auch wenn bestimmte Zahlen oder Buchstaben häufig gleich zugeordnet werden - A ist beispielsweise sehr oft rot -, ist doch, wie erwähnt, die gesamte Farbmatrix bei keinem gleich.

Lange Zeit dachte man ja, solche Leute wären reif für die Klapse. Ehrlich gesagt, wie würden Sie heute reagieren, liefe Ihre Nichte demnächst mit den Worten auf Sie zu: "Tante Anna, Du schmeckst irgendwie nach Buchteln!"? Denn auch solche Kombinationen sind zwar auch unter Synästheten äußerst rar, doch es gibt sie. So berichtet etwa James Wannerton aus England in einem BBC-Interview: "Ich hasse den Namen Derek. Er schmeckt nach Ohrenschmalz." Er habe auch einen Stammkunden, dessen Name für ihn nach nassen Windeln schmeckt, und Blackpool, die Stadt in der er lebt, sei ein Ort mit Fruchtgummigeschmack. Der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman wiederum, empfindet mathematische Funktionen. "Während ich spreche, sehe ich vage Bilder von Bessel Funktionen mit leicht gebräunten Js, violett-bläulichen Ns und dunkelbraunen Xs, die herumfliegen", schreibt er in seinem Buch "What do you care what other people think?".

Sinnesverknüpfungen haben stets auch Philosophen, Naturwissenschaftler und Künstler gleichermaßen fasziniert. Schon Aristoteles beschrieb Verknüpfungen von Geschmacksrichtungen mit Farben und Sir Isaac Newton ordnete 2000 Jahre später in seiner Schrift "Optik" Farben bestimmte musikalische Intervalle zu. Im 19. Jahrhundert waren es dann die Künstler, die von multipler Wahrnehmung schwärmten. Ob sie jetzt selbst Synästheten waren oder ob sie auf ihre eigene Kreativität zurückgreifen mussten: Maler und Schriftsteller begannen Klänge zu malen und Bilder zu schreiben, Komponisten, wie der Russe Alexander Skriabin, entwarfen ganze Farbsymphonien, die mit speziellen Lichteffekten aufgeführt wurden. Auch Wassili Kandinsky hat in seinen Bildern synästhetische Prinzipien vereint, in einem späteren Versuch konnten Synästheten, bei denen Farben und Klänge verbunden waren, die Komposition seiner Werke beim Betrachten tatsächlich hören.

Synästhesie ist keine Krankheit und für die Betroffenen meist eher Gabe denn Plage - zumindest heutzutage, da man darüber Bescheid weiß und keine Einweisung ins Irrenhaus mehr zu befürchten hat. Synästheten tun sich etwa leichter beim Auswendiglernen von Telefonnummern, allgemein langen Zahlenreihen oder Textpassagen, weil sie dabei auf die Unterstützung der Farben zählen können. Durch die Verknüpfung ihrer Sinne schöpfen sie zudem aus einem beachtlichen kreativen Potenzial, das normal empfindende Menschen nicht zur Verfügung haben. Das erklärt auch, warum unverhältnismäßig viele Synästheten Künstler sind.