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"Tarif auf Rädern" ist keine Überkompensation

Von Susanne Forstner, Simon Loretz, Michael Reiter und Ludwig Strohner

Gastkommentare

Warum ein Ausgleich der kalten Progression sinnvoll ist.


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In einem am 20. August erschienenen Aufsatz von Peter Brandner und Josef Baumgartner ("Ausgleich der kalten Progression oder Wechsel zur Realbesteuerung?", Steuer- und Wirtschaftskartei) wird behauptet, ein Ausgleich der kalten Progression, wie er im Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorgesehen ist, stelle eine systematische Überkompensation der durch die kalte Progression erzielten Steuergewinne dar, was tendenziell zu einer langfristigen Senkung der Steuerquote führen würde. Dies wäre ein gewichtiges Argument gegen die geplante Gesetzesänderung. Dem muss klar widersprochen werden.

In einem progressiven Steuersystem gilt für Personen mit höherem Einkommen ein höherer und für Personen mit niedrigerem Einkommen ein niedrigerer Durchschnittssteuersatz. Die Progressivität des Steuersystems wirkt somit sowohl bei Einkommenssteigerungen wie auch bei -rückgängen. Bei einer Erhöhung des Preisniveaus, also bei einer positiven Inflationsrate, steigt per Definition das nominale Einkommen stärker (oder fällt weniger) als das reale Einkommen (die Kaufkraft). Bei gleichbleibendem progressivem Steuertarif und gleicher Kaufkraft ist deshalb der Durchschnittssteuersatz umso höher, je höher die Inflation ist.

Der Durchschnittssteuersatz reagiert also nicht nur auf eine Veränderung des Realeinkommens, sondern auch auf die Inflation. Etwas vereinfachend kann man sagen: Der gesamte Progressionseffekt ist die Summe aus der kalten Progression, die aus dem Inflationseffekt auf das Einkommen resultiert, und einer "warmen Progression", die aus der realen Einkommensänderung resultiert. Bei realen Einkommensverlusten ist der "warme" Progressionseffekt negativ.

Wenn man will, dass sich der Steuersatz an der realen steuerlichen Leistungsfähigkeit orientiert, dann sollte der Effekt der Inflation auf dem Steuertarif eliminiert werden. Genau das ist die Idee der Abschaffung der kalten Progression, die mit dem neuen Gesetzesentwurf der Bundesregierung verfolgt wird. Dies kann dadurch erreicht werden, dass alle Parameter des Steuersystems um die Inflationsrate angepasst werden ("Tarif auf Rädern").

Um ein einfaches fiktives Beispiel zu nehmen: Wenn für ein jährliches Einkommen von 20.000 Euro in diesem Jahr eine Steuerlast von 1.000 Euro anfällt, also ein durchschnittlicher Steuersatz von 5 Prozent gilt, und die Inflationsrate 10 Prozent beträgt, dann sollte der Steuertarif so angepasst werden, dass im nächsten Jahr für ein Einkommen von 22.000 Euro eine Steuerlast von 1.100 Euro anfällt. Die 22.000 Euro im nächsten Jahr entsprechen der Kaufkraft von 20.000 Euro in diesem Jahr und unterliegen folglich einem konstanten Durchschnittssteuersatz von 5 Prozent. Gleichzeitig ergibt sich auch für den Staat ein konstanter realer Wert der Steuereinnahmen, da das reale Einkommen gleich bleibt. Insofern kann dieses Konzept als "Realbesteuerung" verstanden werden.

Ausgangspunkt von Brandner und Baumgartner ist das Argument, dass Haushalte, deren nominales Einkommen im Zeitablauf nicht steigt, vom geplanten Inflationsausgleich profitieren, obwohl sie von der kalten Progression überhaupt nicht betroffen sind. Dahinter steckt eine Definition der kalten Progression, die sich von jener im Gesetzentwurf unterscheidet. Insbesondere wird behauptet: "Eine kalte Progression erfordert also einen progressiven Tarifverlauf, einen Anstieg des nominellen Einkommens und Inflation. Fehlt (zumindest) eines dieser Elemente, kann nicht sinnvoll von kalter Progression gesprochen werden. (...) Nur dann, wenn die Preissteigerung mit einer nominellen Einkommenserhöhung zusammenfällt, tritt ein Progressions- und damit auch ein kalter Progressionseffekt auf."

Definitionen klar formulieren

Diese Aussage ist nicht richtig. Betrachten wir als Beispiel eine Steuerzahlerin, deren Nominaleinkommen trotz positiver Inflation gleich bleibt. Bei gleichem Nominaleinkommen ist der gesamte Progressionseffekt für diese Person tatsächlich gleich null, da auch ihr Durchschnittssteuersatz gleich bleibt. Da ihr reales Einkommen - und damit auch ihre reale steuerliche Leistungsfähigkeit - aber gesunken ist, sollte der Durchschnittssteuersatz eigentlich sinken. Der warme Progressionseffekt für diese Person ist also negativ. Die kalte Progression besteht darin, dass der Durchschnittssteuersatz für diese Steuerzahlerin trotz der verringerten realen steuerlichen Leistungsfähigkeit gleich bleibt.

Grundsätzlich steht es jedem frei, Begriffe nach Gutdünken zu definieren. Definitionen sollten allerdings einfach und zweckmäßig sein und vor allem klar formuliert werden. Zweckmäßig ist die Definition der Autoren schon deshalb nicht, weil die von ihnen angeführte "korrekte" Berechnung der kalten Progression Daten über die individuelle Entwicklung des Einkommens steuerpflichtiger Personen im Zeitablauf verlangt, die typischerweise nicht vorliegen. Um die kalte Progression entsprechend abzuschaffen, müsste in der Folge jeder Person ein individueller Steuertarif zugeordnet werden, der sich aus der ihrer vergangenen Einkommensentwicklung bestimmt. Dies ist in der Realität nicht umsetzbar. Darüber hinaus wird - im Gegensatz zum Gesetzesentwurf und zum dazugehörigen Progressionsbericht - die alternative Definition der kalten Progression durch die Autoren an keiner Stelle mathematisch klar und eindeutig formuliert.

Problematisch wird es jedenfalls, wenn aus einer alternativen Definition falsche Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Autoren behaupten: "In Zeiten hoher Inflationsraten wird die Lohnsteuerquote einen sinkenden Trend aufweisen, bei niedrigen Inflationsraten hilft die reale Progression, die Lohnsteuerquote zu stabilisieren." Das ist nicht richtig. Bei einem Steuertarif, der die nominalen Größen um die Inflation bereinigt (dem "Tarif auf Rädern") hängt die Steuerquote eben nicht von der Inflation, sondern vom durchschnittlichen Realeinkommen ab. Sinkt dieses, wie es im Moment passiert, weil die hohe Inflation durch einen Anstieg der Importpreise ausgelöst wird, so sinkt die Steuerquote; steigt es, so wird auch die Steuerquote wegen der realen Progression steigen (immer vorausgesetzt, dass sich die Einkommensverteilung nicht zu stark ändert). In einer real wachsenden Wirtschaft wird die Steuerquote aufgrund der warmen Progression im Zeitablauf tendenziell ansteigen.

Jährliche Glättung

Bisher wurde der Effekt der kalten Progression immer wieder durch Steuerreformen in mehrjährigen Abständen ausgeglichen. Durch den Gesetzesentwurf würde dieser Prozess in Zukunft automatisch und jährlich durchgeführt und damit geglättet. Dies schränkt den Handlungsspielraum der Fiskalpolitik in dem Sinne ein, dass Steuererhöhungen explizit beschlossen werden müssen, statt über die kalte Progression automatisch öffentliche Mehreinnahmen zu erzielen. Die Erhöhung der Steuerquote über die warme Progression, bedingt durch die Steigerung der durchschnittlichen Realeinkommen, bleibt aber weiterhin bestehen.