Eine Reise in den Südosten der Türkei. | Die Skulptur im Kreisverkehr zeigt, wofür Diyarbakir auch bekannt sein will: Wie auf einer mehrstöckigen Torte prangt dort eine steinerne Wassermelone. Denn obwohl von kargen ausgedörrten Bergen umgeben, liegt die Stadt selbst in einer fruchtbaren Ebene. Sie ist fast 700 Kilometer südöstlich von der türkischen Hauptstadt Ankara entfernt; zur Grenze mit Syrien sind es nicht einmal hundert Kilometer. Es ist Mesopotamien, dessen Kultur Jahrtausende alt ist. Der Fluss Tigris, über den eine tausend Jahre alte Brücke mit zehn Bögen führt, macht den Anbau von Melonen, Tomaten und Gurken möglich. Die Felder sind besonders gut von den Bastionen der Wehrmauern aus zu sehen.
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Entlang der mächtigen Stadtmauer, die das alte Diyarbakir ringförmig umschließt, ziehen sich ärmliche Hütten. Die steinernen einstöckigen Gebäude sind hellblau, gelb oder rosa getüncht. Auf den Stufen vor den Türen sitzen plaudernd ein paar Frauen mit blütenweißen, locker um den Kopf gewickelten Tüchern. Der Wind wirbelt den Staub auf, legt ihn auf die Menschen und Häuser.
Innerhalb der Mauern scheint die moderne Türkei weit entfernt, sind die gläsernen Teile Diyarbakirs mit seinen chromglänzenden Cafes wie aus einer anderen Welt. Innerhalb der Mauern gehören die Straßen den Männern: Sie sitzen vor kleinen Imbissen, bieten an Ständen ihre Ware an, schlendern durch die Altstadt. Der Duft von Obst und Gewürzen vermischt sich mit dem Gestank von Abfall. In den engen verwinkelten Gassen, wo die Sonne selten vorbeischaut, laufen Grüppchen von Kindern herum.
Doch gibt es eben auch das andere Diyarbakir, das sich kaum von anderen anatolischen Städten unterscheidet, die nicht zuletzt durch die Landflucht stark gewachsen sind. Pastellfarbene Wohnblöcke ziehen sich bis an die Stadtränder. Dazwischen gläserne Bürogebäude und unzählige Werbetafeln an den Hauswänden. In Ofis, einem der neueren Viertel, reihen sich Geschäfte aneinander, neben Bars und Kaffeehäusern. Am Abend, wenn es von den 30 Grad Celsius schon im Frühling auf 20 Grad abgekühlt hat, sitzen Männer wie Frauen, in T-Shirts und Jeans in schicken Cafes auf Sitzpölstern und rauchen Nargile, Wasserpfeife. Auf den vierspurigen Ausfallstraßen hupen Autofahrer ihre Vordermänner an.
Wer es sich leisten kann, wohnt nicht in der Altstadt sondern hier, in den modernen Apartmenthäusern, wo es Supermärkte gibt und mehr Platz zum Parken. Am Straßenrand sind etliche Autos mit dem Kennzeichen von Ankara zu sehen. Außerhalb der Stadt wollen viele nicht gleich als Diyarbakirer auffallen. Es mag ein Überbleibsel aus der Zeit sein, als es nicht förderlich war, sich als Kurde zu erkennen zu geben.
Auch dafür steht nämlich Diyarbakir: für das so genannte Kurdenproblem, das Ringen der größten Minderheit in der Türkei um ihre Rechte. Im Südosten des Landes leben viele Kurden, und so manchem von ihnen reißt schon die Geduld - auch mit den eigenen Vertretern. Der Hotelbetreiber Rifat etwa äußert seinen Unmut gern. Wenn er etwas von Politik und Kurden und Forderungen hört, platzt es aus ihm heraus. "Ich kann das nicht mehr hören", kann er dann rufen: "Das Kurdenproblem! Autonomie!" Was die Kurden bräuchten, seien wirtschaftliche Entwicklung sowie Arbeitsplätze und nicht ständige Beschwerden über Unfreiheit. "Ich gebe 25 Menschen Jobs, und es wären mehr, wäre die wirtschaftliche Lage besser", erklärt der Mann. "Die Leute würden sich dann mehr um ihre Arbeit kümmern und weniger politisieren."
Es ist jedoch genau diese Mischung von wirtschaftlichen und politischen Problemen, die sich nicht so einfach entknüpfen lässt und den Südosten der Türkei in seine triste Lage gebracht hat. Und die manche Kurden in den bewaffneten Kampf getrieben hat. Bis heute kosten die Gefechte zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans Menschenleben.
Erst vor wenigen Jahren hat erstmals eine Regierungspartei begonnen, auch auf die wirtschaftliche und soziale Dimension der Situation hinzuweisen. Milliarden Euro sollen nun in die Infrastruktur, in Straßen und die Ausbildung von Menschen fließen. Angekündigt wurde ebenso eine Initiative zur Stärkung der kulturellen Rechte der Kurden.
Noch leidet Diyarbakir aber an den Folgen der jahrzehntelangen sozialen und wirtschaftlichen Vernachlässigung. In den späten 1990er Jahren noch herrschte dort - wie in weiten Teilen des Südostens der Türkei - der Ausnahmezustand. Kurdisch durfte in Schulen und Ämtern ebenso wenig gesprochen werden wie auf der Straße. Wegen der Kämpfe hat die Armee hunderte großteils von Kurden bewohnte Dörfer geräumt. Die Menschen flohen aus den Bergen, nahmen ihre Kinder und Habseligkeiten mit und leben nun in Slums in Istanbul oder Ankara - oder in Diyarbakir, das mittlerweile auf 1,5 Millionen Einwohner angewachsen ist.
Die Land- und Viehwirtschaft in der Gegend kam zum Erliegen; die Industrialisierung des Landes reichte nicht bis hierher, so gut wie alle in- und ausländischen Investitionen flossen in den Westen. Die Region verarmte. Probleme wie das feudale System, geringe Bildung und Unterdrückung von Frauen wandeln sich nur zögerlich.
Heute ist Diyarbakir mit seiner 5000 Jahre alten Geschichte eine junge Stadt: Die Hälfte der Einwohner ist nicht älter als 19 Jahre. Perspektiven haben sie aber noch zu wenige: Schätzungsweise jeder dritte Mensch ist arbeitslos.
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