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Karlsruhe - Die Kontrahenten vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVG) trafen sich in einem entscheidenden Punkt. Beim Streit über die Einführung des Pflichtfaches "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" (LER) an Brandenburgs Schulen statt des Pflichtfachs Religion hatten beide Seiten bei der mündlichen Verhandlung am Dienstag das gleiche Argument für ihren jeweiligen Standpunkt: Sie wollen eine "Ausgrenzung" christlicher Schüler verhindern.
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Seit 1996 gibt es im ostdeutschen Bundesland Brandenburg das Fach LER als ordentliches Lehrfach. Religionsunterricht ist damit nicht verboten; soweit die Kirchen ihn an den Schulen anbieten - was die Landesverfassung ausdrücklich vorsieht - , können Schüler daran teilnehmen. Entweder lassen sie sich von LER befreien und besuchen stattdessen den Religionsunterricht oder sie nutzen diesen zusätzlich zu LER. Und diesen Parallelbesuch führt die Landesregierung als eigentliches Ziel ihrer Regelung an.
"LER soll die Basis für weiteres Fragen und Lernen legen und auch Fragen aufwerfen, die das Fach selbst nicht beantworten kann, sondern die der Religionsunterricht aufgreifen muss", erklärte der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche. Das Fach habe eine wichtige Integrationsfunktion, da es einer weitgehend atheistischen Gemeinschaft das Erlebnis von Gemeinsamkeit und Differenzen ermögliche. Es solle ganz bewusst kein Ersatz für den Religionsunterricht sein. "Wir sehen das nicht als entweder - oder, nicht alternativ, sondern konsekutiv", erklärte Reiche.
Das Land sei bereit, den noch nicht flächendeckend eingeführten Religionsunterricht in kirchlicher Verantwortung auszubauen und zu finanzieren. Beide Fächer als alternative Pflichtfächer seien aber nicht das Ziel, sagte Reiche. Denn dann müssten sich die Schüler entscheiden. Und da 80 Prozent der brandenburgischen Schüler nicht kirchlich gebunden sind, fürchtet das Land, dass sich die Mehrheit für LER entscheiden würde und eine Minderheit den Religionsunterricht besuche. Mit der jetzigen Regelung könnten aber Christen und Nichtchristen gemeinsam an die Religion herangeführt werden und sich entscheiden, ob sie sich näher damit befassen wollten. Ministerpräsident Manfred Stolpe erklärte, er werde persönlich darüber wachen, dass es keine Benachteiligungen des Religionsunterrichtes gibt. Doch da widersprach ihm Bischof Wolfgang Huber von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. "Es geht nicht um Benachteiligungen im Einzelfall, sondern um Benachteiligungen in der Struktur." Da Religionsunterricht nicht zur ordentlichen Stundentafel gehöre, finde er zu unbeliebten Uhrzeiten statt, was zu einer massiven Abmeldewelle führe. Faktisch habe der Besuch des Religionsunterrichts also diskriminierende Wirkung.
Auch die Eltern und Schüler, die neben CDU/CSU und den beiden Kirchen gegen die brandenburgische Regelung vor das Bundesverfassungsgericht zogen, sehen eine Diskriminierung. Wenn Religion als ordentliches Unterrichtsfach eingeführt werde, würden Sonderbelastungen durch zusätzlichen Unterricht vermieden, Ausgrenzung und der Eindruck von Sektierertum unterblieben und die Lernanstrengungen der Schüler würden honoriert, erklärten sie. Denn die Noten im Religionsunterricht sind in Brandenburg nicht zeugnisrelevant.
Aber auf Noten wollen die Kläger das Problem nicht reduzieren. Unionsfraktionschef Friedrich Merz sah vielmehr ein Verfahren "von grundsätzlicher Bedeutung, wie es nur wenige in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gab". Es gehe um die Frage, was der Staat regeln müsse und dürfe. Denn die Kläger, allen voran die beiden Kirchen, sehen Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt. Dort heißt es: "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lernfach."
Brandenburg beruft sich mit seiner Sonderregelung auf Artikel 141, in dem es heißt, dass der obige Artikel keine Anwendung in einem Land findet, in dem am 1. Jänner 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Juristisch stellt sich somit die Frage, ob diese Regelung auf Brandenburg angewendet werden darf, das zu diesem Zeitpunkt zur DDR gehörte.
Für die Kirche lautet die Frage allerdings anders. "Bei wem liegt das Recht, das Selbstverständnis der Kirchen zu interpretieren?", fragte der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche, Präses Manfred Kock. Doch letztendlich geht es um die Frage, welche Rolle die Kirche im heutigen gesellschaftlichen Leben noch spielt.